Gagel, Reinhard

Hohes Niveau und Tiefe sind zweierlei

Einige Gedanken zur musikalischen Qualität improvisatorischer Prozesse

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2009 , Seite 16

Die Qualität der Improvisation ist nicht als Ein-Deutiges, sondern als Mehrdeutiges, Strittiges, Subjektives zu sehen, das dennoch (und gerade deshalb) miteinander verhandelt werden muss. Auf der Grundlage ­solcher relativen Gewissheiten lassen sich Kriterien für Qualität bestimmen. Es geht dabei nicht allein um musikalische Gesichtspunkte, sondern um die Intensität, Prägnanz, Spontaneität, Spielfreude der jewei­ligen musikalischen Gestaltung. Unsere Musikausbildung und unser Musikleben erzeugt hingegen weit­gehend die Illusion, Qualität als eine „feste“ Eigenschaft anzusehen, die sich mit Begriffen wie hohes oder niedriges Niveau bewerten lassen.

Warum ist es eigentlich notwendig, speziell über die Qualität von Improvisation nachzudenken? Ein ähnlicher Auftrag, über die Qualität von Komposition nachzudenken, wäre undenkbar. Wir wüssten, dass es gute und schlechte Kompositionen gibt, ohne dass das Komponieren als solches in Frage stünde. Der Hervorbringung von Musik durch Improvisation, vor allem als kollektivem musikalischen Schaffen in der Gruppenimprovisation aber wird misstraut. Gegen ihre Qualität gibt es Vorurteile und Voreinstellungen: Spielen alle miteinander improvisierend, herrsche doch wohl Beliebigkeit! Am ehesten diene das der Selbsterfahrung, aber doch nicht dem Erstellen guter Musik! Eine Improvisa­tion lasse sich nicht ausfeilen und verbessern, könne also nicht reifen. Improvisieren tauge deshalb nur zum Spaßhaben und zum Motivieren. Sie sei keine ernst zu nehmende künstlerische Strategie, weil sie keine Qua­lität habe. Viele MusikerInnen und Musik­päda­gogInnen scheuen deshalb vor dem Improvisieren zurück.
Selbstverständlich spielt für improvisierende Musiker die Frage nach der Qualität ihres Tuns eine Rolle. Ich möchte mit den nun folgenden Überlegungen Kriterien für die Qualitätsdiskussion von Improvisation vorschlagen. Sie beziehen sich nicht nur auf die Rezeption, sondern auf das aktive Hören und Spielen von Improvisation und sie beruhen auf dem besonderen Charakter der Improvisation: Ich verstehe Improvisieren als ein außergewöhnliches, einmaliges musikalisches Geschehen mit unvorhersehbarem Ausgang, das von vielen durch Austausch und Zuhören geschaffen wird.1 Es gehört zu den „Regeln“ dieses Genres, „dass eine bestimmte schlüssige, zusammenpassende Musik sich entwi­ckeln kann, die jedoch nach sehr offenen aber dennoch komplexen ästhetischen Kriterien in dem Moment als ,funktionierend‘ oder im Nachhinein als ,gelungen‘ gelten kann“.2

Relative Qualität

Jeder Spieler benötigt Kriterien, um musikalische Verläufe gestalten zu können. Er möchte etwas Schlüssiges und Originelles spielen, mit dem er sich eigenständig ausdrücken kann. Natürlich sucht er dabei Anhaltspunkte, ob das, was er in den musikalischen Verlauf einbringt, diesem angemessen ist. Er möchte auch in der Reflexion versuchen zu benennen, was ihm während des Spielens interaktiv und musikalisch passiert ist. Aber – jede Improvisation ist anders. Die Fülle dessen, was in einer Improvisation geschehen ist, lässt sich nicht mit musikalischen Begriffen und musikästhetischen Überlegungen allein fassen. Die Kommunikation der Musiker, ihre Interaktion und das einander Zuhören sind ebenfalls wichtig, wenn nicht sogar entscheidend für die Qualität.
Alle künstlerischen Prozesse sind im Grunde komplexe Geschehen, aber improvisatorische Verläufe im Hier und Jetzt verweigern sich besonders festen Gewissheiten. Ich möchte deshalb, um über Qualität nachzudenken, einer anderen Spur folgen. Wie wäre es, den menschlichen Geist von seiner Sucht nach allgemein gültigen und zeitlosen Kriterien abzulenken und ihn damit zu konfrontieren, dass es relative Gewissheiten sind, die er für die Qualität seines Handelns und Wissens braucht?

1 Meine Überlegungen beziehen sich auf das Improvisieren in kleinen und großen Ensembles. Das meiste lässt sich aber auch auf das solistische Improvisieren übertragen.
2 Silvana K. Figuero-Dreher: „Musikalisches Improvisieren: Ein Ausdruck des Augenblicks“, in: Ronald Kurt/ Klaus Näumann: Menschliches Handeln als Improvisa­tion, Bielefeld 2008, S. 166.

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