Jachmann, Jan
„Ich mach das eher nicht so“
Wie SchülerInnen ihre eigene Perspektive finden
Wie setzen sich SchülerInnen mit den Sichtweisen ihrer Lehrerinnen und Lehrer auseinander? Wie finden sie zu eigenen Perspektiven auf sich als MusikerInnen und auf die Musik, die sie machen? Und wie lassen sich individuelle Perspektiven der SchülerInnen fördern?
„Ich war mal auf einem Konzert. Da war eine Geigerin, die hat so richtig… Die war barfuß und so! Die hat dann die ganze Zeit rumgetanzt…“ – Von diesem Erlebnis berichtete mir die 15-jährige Saxofonschülerin Matilda in einem Interview, das ich im Zuge der Arbeit an meiner Dissertation mit ihr führte. Matilda schien von der extrovertierten Violinistin einerseits fasziniert zu sein. Zugleich wirkte sie distanziert, beinahe etwas ungläubig über deren bewegte und – im wahren Sinne des Wortes – offene Art, Musik zu machen. Die Schülerin kommentierte ihr Erlebnis ziemlich entschlossen mit dem Satz: „Also ich weiß nicht, ich mach das eher nicht so.“
Matildas kritische Auseinandersetzung mit der tanzenden Violinistin war Teil eines musikalischen Bildungsprozesses, in dem sich die Schülerin zu dieser Zeit befand: Sie hatte im Zuge der Interaktion mit ihrer Lehrerin Maike festgestellt, dass sie ihr eigenes Spiel auf dem Saxofon als zu wenig intensiv und ausdrucksvoll wahrnahm. Nun suchte sie nach Möglichkeiten, ihr Spiel zu intensivieren, und fand dabei zu einer klareren Perspektive auf sich selbst als Musikerin und auf die Musik, die sie machte.
In Matildas Feststellung, sie werde – anders als die Violinistin – nicht barfuß über Bühnen tanzen, deutet sich dabei bereits ein wesentliches Prinzip ihres Bildungsprozesses an: Die Schülerin bildete ihre individuelle Perspektive im Zuge ihrer Interaktion und Auseinandersetzung mit anderen Menschen heraus. Insbesondere Matildas Lehrerin Maike hatte durch ihre Handlungen und Äußerungen einen Einfluss auf diesen Prozess, an dessen Ende Matilda dennoch ihre eigene Sichtweise als Musikerin fand.1
Ich werde im Folgenden genauer beschreiben, wie die Schülerin im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit der Lehrerin eine eigene Perspektive herausbildete. Dabei beziehe ich mich auch auf weitere Beobachtungen: Ich habe im Rahmen meiner Dissertation zwei InstrumentallehrerInnen und jeweils vier ihrer SchülerInnen im Unterricht über vier Monate hinweg begleitet; ich habe meine Beobachtungen währenddessen notiert; ich habe die Unterrichtsstunden auf Video aufgezeichnet, um sie später genauer analysieren zu können; und ich habe Interviews mit den SchülerInnen und Lehrkräften geführt. All diese Daten fließen in die folgende Beschreibung ein. Das heißt, die Phänomene, die ich hier im Zusammenhang mit Matilda und ihrer Lehrerin Maike beschreibe, habe ich in ähnlicher Weise auch bei anderen beobachtet.
Ich möchte in drei Schritten darstellen, wie Matilda eigene Perspektiven entwickelte:
1. Ich beschreibe, wie Matilda durch die Kritik ihrer Lehrerin zu einem klareren Blick auf ihr eigenes Spiel fand.
2. Ich zeige, wie sie sich dabei zugleich mit einem Bild auseinandersetzte, das die Lehrerin von ihr hatte, und so zu einem Selbstbild als Musikerin fand.
3. Ich stelle dar, wie sie im Zuge dessen eine eigene Sichtweise auf die Musik entwickelte, die sie gerade spielte.
Matilda findet zu einem klareren Blick auf ihr Spiel
Matildas Suche nach einer ihr eigenen Art, expressiver zu musizieren, war ausgelöst worden durch Kritik ihrer Lehrerin. Maike hatte festgestellt, dass ihre Schülerin nur mit wenig musikalischem Ausdruck spielte: Sie machte geringe dynamische Unterschiede, spielte eher leise und stand dabei relativ unbewegt vor ihrem Notenständer. So wirkte ihr Spiel insgesamt zurückgenommen und wenig extrovertiert. Die Lehrerin äußerte diese Feststellung gegenüber Matilda wiederholt im Unterricht und verband sie mit der Aufforderung, ausdrucksvoller zu musizieren. Sehr deutlich wurde dies beispielsweise in einer Szene, in der die beiden am Anfangsmotiv einer Sonate von Carl Philipp Emanuel Bach arbeiteten: Maike stellte fest, das Motiv solle wie bereits besprochen „mit Freude“ gespielt werden, und konstatierte, ihre Schülerin sei dabei noch zu „zögerlich“. Sie forderte Matilda durch Gesang, Bewegungen und Worte auf, beim Spiel des „freudigen“ Motivs größere Bewegungen zu wagen, expressiver zu musizieren und stärker aus sich herauszugehen. Diese Aufforderung wiederholte die Lehrerin auf ähnliche Weise in den folgenden Stunden.
Maikes Kritik zeigte Wirkung: Nach einer Unterrichtsstunde, in der Matilda erneut wegen ihres zurückhaltenden Spiels kritisiert worden war, stellte die Schülerin im Interview fest: „Das Anfangsmotiv der Sonate sollte eher laut sein. Man muss dann auch so volle Power geben. Bei mir persönlich ist das halt so’n bisschen schwer, weil ich das irgendwie nicht so gut kann, also so richtig laut spielen. Also ich spiel von Anfang an her eher leise. Auch wenn’s doof ist, irgendwie.“ Sie schien also durch die Äußerungen ihrer Lehrerin nun auch selbst zu einer kritischen Sicht auf ihr Spiel gekommen zu sein.
1 Diese Beobachtung bestätigt die soziologische Auffassung, dass Menschen sich im Zuge ihrer Selbstbildung an anderen orientieren und von diesen beeinflusst werden, dabei aber dennoch zu einer eigenen Persönlichkeit finden. Siehe u. a. Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998, S. 7 f.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2017.