Hiby, Stefan

„Ich weiß genau, ob sich das jetzt richtig anfühlt oder nicht“

Die hörgeschädigte Organistin Laura Glas im Gespräch über Muskel-Gedächtnis, Intonation und gespürte Musik

Rubrik: Interview
erschienen in: üben & musizieren 2/2018 , Seite 48

Liebe Laura Glas, schon zu Beginn Ihres Leben mit Musik hat es einige Besonderheiten gegeben…
Ja, als ich geboren wurde, ist aufgefallen, dass mein rechtes Ohr und das rechte Auge völlig verschlossen waren. Meinen Eltern wurde ge­sagt, dass ich wohl niemals ­hören und niemals sprechen lernen würde. Dass ich doch nicht völlig gehörlos bin, haben meine Eltern sehr schnell gemerkt, als sie mich fotografiert haben. Damals – ich muss ungefähr anderthalb Monate alt gewesen sein – hatten die Apparate noch laute Zooms und ich drehte mich nach dem Geräusch um. Seit dem dritten Lebensmonat trage ich links ein Hörgerät, weil man eben verstärken möchte, was noch da ist. Doch auch schon vor dieser Entdeckung wurde immer um mich herum gesungen und musiziert. Meine Eltern kommen beide aus sehr musikalischen Familien. Sie haben mich oft zweistimmig mit Gitarre in den Schlaf gesungen. Ob ich nun etwas gehört habe oder nicht: Musik war jedenfalls wichtig.

Das gilt vermutlich auch für die Zeit des Kindergartens und der Grundschule?
Ich bin in den Regelkindergarten und in die Regelgrundschule, später dann aufs Musische Gymnasium in meiner Heimatstadt gegangen. Wegen einer schweren Lungen- und Herzerkrankung war ich oft im Krankenhaus. Wenn ich nicht in die Schule gehen konnte, habe ich vor dem Rechner im Krankenhaus oder zu Hause gelernt und mich dabei sowohl in der deutschen als auch englischen Sprache bewegt. Aber wenn ich in der Schule war, habe ich sehr viel Spaß gehabt.

Wann haben Sie mit einem Instrument angefangen?
Ich war fünf Jahre alt, als ich mit Klavier anfing. In der zweiten Klasse kam Blockflöte dazu und in der achten Klasse habe ich zu meinem Hauptinstrument, der Orgel, gewechselt. Ich bin in die fünfte Klasse gekommen mit dem Wunsch, Orgel zu lernen, aber damals haben sie gesagt: „Nein, du musst erst einen Meter sechzig groß werden, sonst kommst du nicht runter an die Pedale.“ Wir haben dann vier Jahre gewartet, aber ich bin nicht mehr gewachsen. Letztendlich durfte ich dann, obwohl ich kleiner bin, Kirchenorgel spielen.

Sie haben viel Orgel geübt?
Natürlich. Ich bin ja Pfarrerstochter, musste also zu Hause nur ein Stockwerk nach oben gehen, um zur Orgel zu gelangen. Die Orgel ist für mich wie ein umschließender Mantel. Sie müssen sich vorstellen: Allein in einer riesigen, dunklen Kirche, das ist normalerweise nicht meine Art, aber mit den Vibrationen der Töne um mich herum stellt sich ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit ein.

Sie haben schon angedeutet, wie Sie Musik wahrnehmen. Wie geht es mit dem Üben? Anders als bei anderen Orgelstudenten?
Zu meinem Gehör muss man wissen, dass ich tiefe Frequenzen überhaupt nicht mehr wahrnehmen kann. Die mittlere Lage ist für mich wie ein Ton-Matsch. Nur hohe Frequenzen gehen noch relativ gut. Leider nimmt mein Hörvermögen insgesamt ab. Ich kann auch jetzt schon nicht mehr über das Gehör kontrollieren, was das Pedal angeht. Aber da kommt das Motorische zu Hilfe. Ich weiß genau, ob sich das jetzt richtig anfühlt oder nicht. Ich wiederhole eine Stelle, bis ich sie sicher in den Beinen habe. Das ist mein Muskel-Gedächtnis.

Das Muskel-Gedächtnis bereitet also die Musik vor, ehe sie erklingt, bevor das Gehör sie wahrnimmt. Ich glaube, dass das auch für unbeeinträchtigt hörende Musikstudenten ein wichtiger Aspekt beim Üben sein kann. Man könnte es vielleicht auch „inneres Hören“ nennen.
Ja, und es ist nicht nur das Motorische. Wenn man im Chor singt oder im Kammermusik­ensemble mit anderen zusammenspielt, gehören viele vom Ohr unabhängige Sinneswahrnehmungen dazu: Blickkontakt, gemein­sames Einatmen, Innehalten usw. Ich habe Musik immer gemeinsam mit anderen gemacht, mich immer auf Auftritte gefreut. Ich muss die Stücke jedoch mehr oder weniger auswendig können, damit ich die anderen im Blick habe. Bei einer Talentshow in den USA gab es eine Finalteilnehmerin, die komplett ihr Gehör verloren und mit ihrer Ukulele gesungen und gespielt hat. Man konnte bei ihr gut erkennen, wie gehörlose Menschen Musik wahrnehmen und machen, eben viel über Muskel-Gedächtnis und Körper. Sie hatte keine Schuhe an und spürte dadurch auch die Vibrationen am Boden. Das war jetzt ein Beispiel aus der Richtung Pop, aber in der klassischen Musik ist es auch nicht anders.

Sie haben in Ihrer Ausbildung viele Quali­fikationsmöglichkeiten. In welche Richtung auch immer, Musik wird wohl lebenslang im Zentrum stehen?
Ich kann mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. Auch wenn der Tag kommt, an dem ich gar nichts mehr hören kann, will ich nicht aufhören zu singen und zu musizieren. Weil das die Sprache ist, die uns alle verbindet. Ich singe jetzt schon in Lagen, die ich nicht mehr über das Gehör wahrnehmen kann, die ich aber trotzdem sauber intoniert ausführe, wie man mir sagt. Ich habe die Intonation verlässlich im Gespür. Für mich gehört Musik einfach zum Leben dazu, gehörte wie gespürte Musik!

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