© www.colourbox.de

Hakim, Anja-Maria

Instrumentalunterricht ohne Noten?!

Hintergründe und Praxistipps zum Musizierenlernen nach Gehör

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 08

Spiel nach Gehör ist eine grundlegende, doch oft vernachlässigte musikalische Fertigkeit. Im Folgenden wird beleuchtet, welche Vorteile ein vermehrt hör­basiertes Unterrichten ohne Noten für AnfängerInnen und Fortgeschrittene hat: Es fördert die Spielfreude, die spontane musikalische Sprachfähigkeit sowie kreative Formen des Musizierens. Forschungen zeigen, dass Unterrichtszeit, die für Spiel nach Gehör verwandt wird, Leistungen im Blattspiel nicht beeinträchtigt, sondern die Motivation am Musizieren langfristig begünstigt.

Musizieren lehren und lernen ohne Noten! Spiel nach Gehör! Warum eigentlich nicht? Immerhin belegen Forschungen, dass InstrumentalistInnen durch ein Training im Spiel nach Gehör mehr Freude im Instrumental­unterricht erleben, ihr Gehör und improvisatorische Fertigkeiten entwickeln und mehr ­Sicherheit auf dem Instrument erlangen.1 ­Dennoch gibt es seitens der „klassischen“, ­notenorientierten Musikausbildung vielfach ­Bedenken, dass notenfreies Musizieren zu mangelnden Fertigkeiten im Notenlesen und Blattspiel führen könnte.2 Auch haben viele Lehrkräfte selbst meist eine notenorientierte Ausbildung genossen und fühlen sich daher beim Unterrichten oft unsicher, Spielformen und Übungen nach Gehör zu integrieren.
Genau genommen ist das Musizieren nach Noten eine abendländische Sonderentwicklung im Kontext der Klassik. Blickt man dagegen auf die Vielzahl der Musikkulturen weltweit, so dominieren hörbasierte (= aurale) und mündliche (= orale) gegenüber schriftlichen Vermittlungstraditionen,3 sei es beim Erlernen indischer Kunstmusik, bei afrikanischen Meistertrommlern aus Ghana, den Samba-Gruppen in Rio de Janeiro, dem Gruppenmusizieren im indonesischen Gamelan oder den lockeren Sessions traditionell irischer MusikerInnen. In all diesen Fällen werden die Lernenden zu variationsreichem und improvisationsfreudigem Musizieren in ganz bestimmten musikalischen Stiltraditionen an­geregt. Dies geschieht weniger durch verbale Instruktion oder schriftliche Vorgaben als vielmehr durch langfristige Prozesse des Hörens, Nachmachens und Variierens idioma­tischer Figuren und Regeln – umgeben von einer Gemeinschaft von Interessierten und Experten. Nicht zuletzt angeregt durch die Popularmusik, den Jazz und die Weltmusik zeichnen sich in den vergangenen zwanzig Jahren zunehmend Initiativen auch im Rahmen der formalen, „klassischen“ Musikausbildung ab, welche die Entwicklung auditiver Fähigkeiten stärker fokussieren und dementsprechende Spielweisen in den Unterricht integrieren.
In diesem Artikel wird ausgeführt, was Spiel nach Gehör genau ist, warum es die musikalische Vermittlungsmethode per se sein könnte und wie man es schrittweise lernen und lehren kann.

Akustisches Modelllernen

Komplexe Fähigkeiten wie Laufen, Sprechen und Singen können Kinder nur durch Nachahmung erlernen. Auch Spiel nach Gehör ist eine Form des Nachahmungslernens, genauer: ein akustisches Modell-Lernen, und bedeutet, dass eine unbekannte erklingende Musik hörbasiert, ohne Hilfe von Notation auf einem Instrument ausgeführt wird.4
Häufiges Spiel nach Gehör trainiert die Ohr-Hand-Koordination und befähigt Musizierende, musikalische Ideen direkt umzusetzen, ohne über die passenden Fingersätze nachdenken zu müssen oder Griffe am Instrument zu suchen. Durch Spiel nach Gehör lernen Ins­trumentalschülerInnen, musikalische Klänge direkt in geeignete sensomotorische Bewegungsabläufe am Instrument zu überführen. Dabei erwerben sie ein überwiegend implizites Körperwissen, ihr musikalisches Empfinden wird mit dem Körpergedächtnis verknüpft.

Bildung einer ­Klangvorstellung

Die Voraussetzung für ausdrucksvolles Musizieren ist, dass eine innere Klangvorstellung existiert, das heißt eine präzise Idee, wie etwas klingen soll. Beim Spiel nach Gehör bildet sich die Klangvorstellung rein aus auditiven Informationen des Arbeitsgedächtnisses, dagegen wird sie beim Blattspiel visuell erzeugt. Das Auswendigspiel wiederum beruht auf auditiven Informationen des Langzeit­gedächtnisses, die jedoch unterschiedlich ge­bildet werden können: Im „klassischen“ Sektor wird in der Regel zuerst nach Noten gespielt und danach auswendig gelernt. Nach der Suzuki-Methode wird dagegen ein Stück zuerst so oft angehört, bis es aus der Erinnerung ohne Noten nachgespielt werden kann. Speziell bei letzterem Lernweg leitet der Klang die musikalische Umsetzung am Instrument.
Forschungen zeigen, dass Lernende, die notenorientiert unterrichtet wurden, mit den Noten oft nur mangelnde Klangvorstellungen verbinden.5 Die hörbasierte motorische Umsetzung am Instrument – die Ohr-Hand-Ko­ordination – kann sich meist nicht so gut entwickeln, wenn zu früh nach einem visuellen Notenbild gelernt wird. Derart sozialisierte Musizierende fühlen sich oft unsicher, wenn sie ohne Noten, spontan nach Gehör musizieren sollen. Ein übermäßiges Vertrauen in Notation beeinträchtigt speziell das melodische Spiel nach Gehör (weniger das rhythmische).6 Notation kann nicht die Feinheiten musikalischer Phrasierung vermitteln.7 Durch vermehrtes Spiel nach Gehör kann die ausdrucksvolle musikalische Gestaltung von Anfang an Hauptbestandteil des Instrumentalunterrichts sein.

1 vgl. Hakim, Anja-Maria/Bullerjahn, Claudia: „Spiel nach Gehör auf der Violine. Wie beeinflusst musikalische Vorerfahrung die Imitation kulturell vertrauter und fremder Melodiemuster?“, in: Musikpsychologie, Jg. 28, 2019, S. 213-251, hier: S. 221.
2 vgl. Musco, Ann Marie: „Playing by ear: Is expert opinion supported by research?“, in: Bulletin of the Council for Research in Music Education, Bd. 184, 2010, S. 49-64, hier: S. 58 f.
3 vgl. die Unterscheidung von oralen, auralen und visuellen Formen der Musikvermittlung bei Grupe, Gerd: „Ohne Noten kann ich nicht spielen! Über Lehren und Lernen nicht-westlicher Musik“, in: Lüderwaldt, Andreas (Hg.): Contemporary Gamelan Music. 3. Internationales Gamelan Musik Festival Bremen 2006. 25 Jahre Arum Sih, Bremen 2007, S. 79-90, hier: S. 81.
4 vgl. Hakim/Bullerjahn, S. 215-217.
5 Brodsky, Warren/Kessler, Yoav/Rubinstein, Bat-Sheva/ Ginsborg, Jane/Henik, Avishai: „The mental representation of music notation: Notational audiation“, in: Journal of Experimental Psychology. Human Perception and Performance, Bd. 34, 2008, Heft 2, S. 427-445.
6 Corcoran, Christopher/Spiro, Neta: „Score-dependency: over-reliance on performing music from notation reduces aural pitch replication skills“, in: Journal of Interdisciplinary Music Studies, Bd. 10, 2021, S. 73-98.
7 Corcoran, Christopher/Stupacher, Jan/Vuust, Peter: „Swinging the score? Swing phrasing cannot be communicated via explicit notation instructions alone“, in: Music Perception: An Interdisciplinary Journal, Bd. 39, 2022, Heft 4, S. 386-400.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2022.