Peterson, Oscar

Jazz Piano

Übungen, Menuette, Etüden & Stücke. Deutsche Erstausgabe

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Hal Leonard, Milwaukee 2021
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 62

Oscar Petersons Rang als einer der findergewandtesten und originellsten Jazzpianisten steht außer Frage; allenfalls wird man den legendären Art Tatum (1909-1956) zum Vergleich heranziehen, der, wie Peterson, auch einen gewissen „klassischen“ Hintergrund hatte – man nehme Brillanz und Eleganz etwa von Chopin-Etüden als imaginären Maßstab. Wenn jetzt, knapp 60 Jahre nach ersten Teilveröffent­lichungen in Nordamerika, Oscar Petersons (1925-2007) Etüdenwerk in „deutscher Erstausgabe“ erscheint, setzt man die Erwartungen zu Recht hoch.
Die 60 versammelten Stücke sind in ansteigender Schwierigkeit paarweise als „Übungen und Menuette“, „Etüden und Stücke“ und sodann einzeln als „Weiterführende Übungen“ gruppiert – in der klassischen Ausbildung wären das etwa Fortschritte zwischen den Anfängerstücken aus Bachs „Klavierbüchlein“ bis zum „Sonatinenspiel“ à la Clementi. Petersons Übungen und Menuette klingen dabei anfänglich nur in Spurenelementen nach Jazz, es sei denn, man nimmt ­einige Merkwürdigkeiten der Stimmführung dafür. Erst ab der Mitte des Hefts „jazzt“ es: Synkopen, chromatische Gänge, alterierte Sept-Nonen-Akkordik ma­chen auf jeweils maximal zwei Notenseiten großen Appetit auf Weiterführendes. (Die Brücke von hier aus zu an anderer Stelle veröffentlichten Meister-Improvisationen Petersons müsste methodisch allerdings erst noch geschlagen werden.)
Überhaupt Methodik und Didaktik: Zwar stehen über manchen Übungen peinlich-genaue Fingersätze; an wirklig „kitzeligen“ anderen Stellen fehlen sie völlig. Zwar gibt es im ersten Block (mit 9-Punkt-Schrift zu klein gedruckte) ins Deutsche übersetzte Anmerkungen Petersons, die aber fast verzichtbar allgemein bleiben. An keiner Stelle findet sich ein Staccatopunkt oder ein Phrasierungsbogen oder aber ein Hinweis auf die im Jazz so wichtigen (quasi-triolischen) „notes inégales“, obwohl in den Anmerkungen gelegentlich und völlig unkonkret auf jazztypische „Artikulation“ verwiesen wird. Sieht man dieses Heft als Studienwerk für Lernende, so bleibt es mithin um Jahrzehnte hinter aktuellen methodischen Standards zurück. Hier wäre, in welcher Form auch immer, noch erhebliche und wertvolle Modernisierungsarbeit zu leisten, um letztlich auch dem „Standard Peterson“ gerecht zu werden.
Die 14 Menuette der Sammlung stehen übrigens allesamt im 4/4-Takt! Ganz besorgt schlug der Rezensent sofort in Daniel Gottlob Türks Klavierschule von 1789 nach und fand dort zu seiner Beruhigung: „Die [sic] Menuett, ein bekanntes Tanzstück von edlem, reizendem Charakter, im Dreyvierteltakte, wird mäßig geschwind gespielt und gefällig, aber ohne Verzierungen vorgetragen.“ Was aber mag Peterson eigentlich gemeint haben? Marsch? Präludium? Handstück? Gavotte? Das wird sein Geheimnis bleiben – und das seiner heutigen Herausgeber.
Rainer Klaas