Walter, Birgit

Jedem Kind ein Instrument – quo vadis?

Eine Vision auf dem Weg vom Projekt zum Programm

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2012 , Seite 06

Es ist noch gar nicht so lange her, da wusste kaum jemand etwas mit dem Begriff “Jedem Kind ein Instrument” anzufangen. Mittlerweile ist die Frage, was JeKi ist, eine der überflüssigsten Fragen der Branche geworden. Nicht nur, dass jeder weiß, was JeKi ist, es scheint sogar jeder eine Emotion mit diesem Kürzel zu verbinden. Eine ähnliche Polarisierung erhält man sonst nur, wenn man Richard Wagner oder “Deutschland sucht den Superstar” ins Spiel bringt. Was ist geschehen?

Die Geschichte nimmt ihren Anfang in Bochum, wo im Jahr 2003 das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ als Kooperation der städtischen Musikschule, der Zukunftsstiftung Bildung in der GLS Treuhand e. V. und der Grundschulen startete. 2006 wurde das Projekt von der Kulturstiftung des Bundes, dem Land Nordrhein-Westfalen und der Zukunftsstiftung Bildung als Kulturhauptstadt-Projekt ausgewählt. Mit neuem Konzept und unter der Trägerschaft einer eigens gegründeten Stiftung startete das Projekt im Schuljahr 2007/08 im gesamten Ruhrgebiet.
Aber anstatt das Schicksal vieler Kulturhaupt­stadtprojekte zu erleiden und nach dem finanziellen und emotionalen Boom der Kulturhauptstadtphase in der Versenkung zu verschwinden, hat das Land Nordrhein-Westfalen seit dem 1. August 2011 die alleinige Förderung von „Jedem Kind ein Instrument“ übernommen und das zum Programm ge­wordene Projekt in den Dauerbetrieb gehen lassen.
Im Schuljahr 2011/12 werden nun in 42 Kommunen des Ruhrgebiets gemeinsam mit 56 Musikschulen in kommunaler und freier Trägerschaft und 686 Grund- und Förderschulen über 60000 Kinder über JeKi in die Welt der Musik eingeführt – eine Zahl, die Personen, die mit diesem Mammutprogramm noch nicht ausreichend vertraut sind, eher an einen Druckfehler als an die im Ruhrgebiet alltägliche Realität denken lässt.
Doch es gibt auch ein Aber: Der Ausbau des eigentlich noch in den Kinderschuhen steckenden städtischen Projekts „Jedem Kind ein Instrument“ zum Kulturhauptstadtprojekt fand in einem unglaublichen Tempo statt. Es war eine Riesenchance, die es zu nutzen galt und die genutzt wurde; und die von vielen mahnenden Stimmen bevorzugte Variante, erst einmal in Ruhe das ambitionierte Bochumer Projekt zu evaluieren und nach und nach auf die Großfläche zu übertragen, hätte wahrscheinlich dazu geführt, dass sich diese Ausgabe von üben & musizieren einem anderen Thema gewidmet hätte. Aber genau diese mahnenden Stimmen sind jetzt – nach Abschluss der Kulturhauptstadtphase – die notwendige Zutat, die JeKi braucht, um noch für möglichst viele Generationen andauern zu können. Nun ist die Zeit gekommen, das Tempo zu drosseln und zu reflektieren, was wir eigentlich genau meinen und wollen, wenn wir von JeKi sprechen.
Vieles kann man hier diskutieren. Aber ich will mich im weiteren Verlauf auf die folgenden drei Themenkomplexe konzentrieren: die organisatorischen Rahmenbedingungen von JeKi, den durch JeKi implizierten Wandel des Berufsbilds des Musikschullehrers und den Begriff „Jedem“ in „Jedem Kind ein Instrument“.

Vom Kind aus denken

Vor einigen Jahren war die Welt der Grundschulkinder noch in zweifacher Ordnung: Vormittags übernahm der Staat die Aufgabe der Allgemeinbildung der Kinder, nachmittags übernahm das Elternhaus die außerschulische Bildung der Kinder – so zumindest die Idee. Seit der Einführung der Offenen Ganztagsschule im Primarbereich hat sich diese Zuständigkeitsverteilung verschoben. Die Ganztagsschule verfolgt drei Ziele: Verbesserung der Bildungsqualität und mehr individuelle Förderung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Ganztagsangebote aus einer Hand unter dem Dach der Schule. Die Kooperation der Schulen mit Partnern aus Kinder- und Jugendhilfe, Kultur und Sport ist eine zentrale Grundlage der Offenen Ganztagsschule. Im Ergebnis sollen also die Kinder, die zur offenen Ganztagsschule angemeldet sind, bereits durch diese Anmeldung ein gewisses Mindestmaß genau der außerschulischen Bildung erhalten, die im vorherigen Modell allein durch das Elternhaus verantwortet wurde.
Die Grundschule entwickelt sich also zu einem Lern- und Lebensort der Kinder, der mehr als Schulwissen vermittelt. Und genau hier setzt auch JeKi mit seiner dezentralisierten Struktur an. Aber was wie der Anfang eines Systems klingt, das vom Kind aus denkt und an einem gemeinsamen Ort all das versammelt, was die Gesellschaft ihrem Nachwuchs mitgeben möchte, funktioniert in der Praxis nicht immer, weil die einzelnen Zähne der drei Räder Grundschule, Jugendhilfe und Kultur – in unserem Fall JeKi – sich mitunter ineinander verkanten, anstatt ineinander zu greifen.
Zunächst einmal sind nicht alle Kinder der Grundschule zur Offenen Ganztagsschule angemeldet. Somit kann eine wirkliche Durchmischung von schulischen und außerschu­lischen Bildungselementen über den gesamten Grundschultag hinweg nicht stattfinden. Vielmehr lassen sich erstaunliche Parallelen zwischen dem Grundschulvormittag vor und demjenigen nach Einführung der Offenen Ganztagsschule feststellen. Die Elemente des Ganztags setzen dann additiv für diejenigen, die im Ganztag angemeldet sind, auf dem Vormittag auf. Dadurch werden die Angebote der außerschulischen Bildung aber zu Angeboten zweiter Priorität: Sie finden nachmittags statt, sie sind nicht für alle verbindlich, es gibt andere Lehrkräfte, es gibt keine Noten, kurz: Es ist in den Augen der Kinder kein richtiger Unterricht.
So wunderbar der Gedanke auch ist, außerschulische Bildung nach individueller Neigung im Schulalltag zu verankern – dass Bildung außerschulisch ist, bedeutet nicht, dass es, um sie zu erlangen, nicht derselben Ernsthaftigkeit bedarf wie bei der schulischen Bildung. Insofern dürfte der Lernort Schule erst dann wirklich erfolgreich in der Vermittlung von außerschulischen Bildungsinhalten werden, wenn alle Verantwortlichen die hierfür notwendige Ernsthaftigkeit vermitteln. Langfristig könnte dies möglicherweise durch die vom Erlass zur Offenen Ganztagsschule geforderte kindgerechte Verteilung von schulischen und außerschulischen Inhalten und Freizeitangeboten über den gesamten Schulalltag durch die Bildung reiner Ganztagsklassen geschehen. Kurz- und mittelfristig ist dies eher realistisch durch die Aufwertung der außerschulischen Bildungsangebote durch systemische Ver­ankerung im schulischen Pflichtkanon, beispielsweise durch Verknüpfung der in Klasse oder Schulgemeinschaft vorhandenen außerschulischen Bildung mit der schulischen Bildung.
Im ersten Schuljahr geschieht in Bezug auf die beiden Räder Grundschule und JeKi genau dies: JeKi ist Teil des schulischen Musikunterrichts, Grund- und Musikschullehrkraft unterrichten in vor JeKi nicht zu erahnender Nähe gemeinsam die Kinder, wenn auch die konkrete Zusammenarbeit im Tandem vielerorts noch eine Herausforderung darstellt. Und ein funktionierendes Ensemble Kunterbunt, das die Schulgemeinde beim gemeinsamen Schulfestsingen instrumental unterstützt und dafür sorgt, dass auch die Nicht-JeKi-Kinder der Schulgemeinde wieder einmal in Kontakt mit den unterschiedlichen Inst­rumenten kommen, ist ebenfalls ein Beispiel für eine solche Verknüpfung.
Aber im Unterrichtsgeschehen ab der zweiten Klasse ist JeKi additiv, und noch schlimmer: Durch die Elternbeiträge freiwillig geworden, gerät es jetzt sogar mit der Offenen Ganztagsschule (OGS) in Konflikt, denn hier sind kostenpflichtige Angebote aus durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht zulässig. Und im Endeffekt haben wir ein buntes Durcheinander von Grundschulkindern, für die teils weder JeKi noch OGS, teils nur JeKi, nicht aber OGS, teils OGS, nicht aber JeKi und teils sowohl JeKi als auch OGS gelten – wem hier schon beim Lesen schwindelig wird, der kann nur erahnen, wie viel Mühe es in der Praxis macht, hier noch Zeiträume vorzuhalten, in denen Bildungsangebote außerschulischer Partner stattfinden können.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2012.