Dillinger, Lisa / Johannes Drerup / Phillip D. Th. Knobloch / Jürgen Nielsen-Sikora

Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger

Zur Analyse und Kritik engagierter Pädagogiken

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: J. B. Metzler, Berlin 2023
erschienen in: üben & musizieren 4/2023 , Seite 59

Ist die Darstellung von Jim Knopf in Michael Endes Kinderbuchklassiker rassistisch? So empfunden von einer Erzieherin, die Jim-Knopf-Bücher aus ihrer Einrichtung entfernte… Kann der (wohl als männlich gelesene) Außerirdische Gonzo aus der Muppet Show Kinder in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität nachhaltig verstören, wenn er in einer der Sendungen ein Kleid trägt? So empfunden von einem konservativ populistisch eingestellten Teil der Bevölkerung…
Die Diskussionen über Cancel Culture, die Vorwürfe gegen „woke Gutmenschen“ auf der ­einen und „rechtspopulistische Antimodernisten“ auf der anderen Seite werden mit zunehmender Härte und Unversöhnlichkeit geführt. Buch-Klassiker werden von als verletzend und rassistisch empfundenen Formulierungen bereinigt und die Diskussion, ob sich Kinder als Indianer oder Scheich verkleiden dürften oder ob dies eine unerlaubte „kulturelle Aneignung“ sei, ist in den Kitas angekommen.
Die vier AutorInnen im vorliegenden Sammelband widmen sich in umfangreichen Analysen der Rassismuskritik, der Diskussion über sexuelle Vielfalt, dem Umgang mit politisierten Konsumprodukten und diskutieren den Zustand der Kunst in hypermoralischer Zeit. Bezogen auf die Diskussion über Rassismus weist Johannes Drerup auf einen hoffnungsvollen Aspekt hin, der für alle Diskussionen gelten kann: „Es ist der öffentliche Streit über diese Bücher, der offensichtlich einem gesellschaftlichen Normwandel Ausdruck gibt, der insgesamt als positiv zu bewerten ist.“ Drerup bezeichnet dies als Integ­rationsparadox: Eine verbesserte Integration führe eben nicht zu einer harmonischen Konsensgesellschaft, sondern zu mehr Konflikten und Kontroversen, die offen ausgetragen werden.
So positiv diese neue Lust am Streit auch sein mag, so bedenklich erscheint die Art, wie diskutiert – oder eben nicht diskutiert wird. Jürgen Nielsen-Sikora erkennt eine zunehmende „Hypertrophie der Moral“: „Unter dem Deckmantel des moralischen Fortschritts und dem Verweis auf eine vermeintlich zu erreichende Gleichberechtigung werden vielmehr neue Formen der Exklusion ausgetestet.“ Ein Gespräch sei „gar nicht erwünscht, weil man bereits in der Wahrheit lebt“. Vielfalt in all ihren Erscheinungsformen zu ertragen, werde für immer mehr Menschen immer schwieriger.
Auf die Frage des „richtigen“ Umgangs mit solchen Diskussionen können die vier lesenswerten und tiefgehenden Beiträge dieses Buchs keine eindeutigen Antworten geben. Doch bietet womöglich gerade die Vieldeutigkeit der Kunst, speziell der Musik die große Chance, eine für das Leben wesentliche Fähigkeit einzuüben: Vieldeutigkeit zu erkennen, auszuhalten und eine begründete subjektive Sichtweise einzunehmen, die akzeptiert, dass es auch andere Lesarten geben kann.
Rüdiger Behschnitt