Berio, Luciano / Emmanuel Pahud

Kadenzen

zum Flötenkonzert D-Dur KV 314 von Wolfgang A. Mozart/zu den Flötenkonzerten KV 313, KV 314 & KV 315 von Wolfgang A. Mozart

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 2013
erschienen in: üben & musizieren 4/2014 , Seite 57

Konzert-Kadenzen sind seit jeher der Ort, das Stück zu kommentieren, den Ideen des Komponisten nachzugehen, sie zu verändern und weiterzuspinnen und dabei natürlich auch seine Virtuosität zu zeigen. Die von Mozart zu einigen seiner Klavierkonzerte notierten Kadenzen, die er sonst im Konzert zu improvisieren pflegte, kann und darf man sich dabei zum Vorbild nehmen. Eine andere, häufig genutzte Möglichkeit ist es, von berühmten Flötisten komponierte Kadenzen zu spielen, wie sie z. B. von Donjon oder Taffanel bekannt sind.
Wenn man moderne, aber trotzdem passende Kadenzen spielen möchte – bei Mozart ist dazu schon ein wenig Mut nötig –, geben die von Luciano Berio komponierten Kadenzen dazu Gelegenheit. Sie sind, wie auch die eigenen Beiträge Emmanuel Pahuds, in der Reihe „The Flute Collection“ der Universal Edition erschienen, für die Pahud als Initiator und Herausgeber verantwortlich zeichnet.
Bruno Cavallo, Soloflötist des Orchesters der Mailänder Scala, war der Auftraggeber der 1985 entstandenen Kadenzen zu Mozarts D-Dur-Konzert. Berio gehörte damals zur europäischen Komponisten-Avantgarde, seine Sequenza von 1958, das erste ­einer Reihe von gleichnamigen Stücken für verschiedene Soloinstrumente, dürfte jedem ein Begriff sein. In seinen Kadenzen verzichtet er auf die dort verlangten spieltechnischen Schwie­rigkeiten. Für die Mehrstimmigkeit suggerierenden Tremoli im Mittelteil der Kadenz des ersten Satzes reichen Quintgriffe aus, nur für die Sexte d”’-fis” ist ein Spezialgriff nötig (Schaeffer oder Pellerite helfen da z. B. weiter). Durch wirkungsvolle, flötenspezifische Ideen ist es Berio gelungen, Mozarts Musik auf persönliche und originelle Weise in die Gegenwart zu versetzen, einerseits kontrastierend, andererseits durch thematische Anklänge mit ihr verbunden.
Beinahe zeitgleich hat auch Karlheinz Stockhausen für Kathinka Pasveer Mozart-Kadenzen geschrieben, sogar für beide Konzerte. An weiteren zeitgenössischen Beispielen wären noch zu nennen die Mozart stilistisch ­näherstehenden Kadenzen von Raffaele d’Alessandro (KV 313, für Aurèle Nicolet) und von Louis Noël Belaubre (KV 313, 314 und 315, für Alain Marion), in deren Tradition Emmanuel Pahuds Kadenzen zu sehen sind. Entstanden und gewachsen im Lauf seiner Solistentätigkeit, verbinden sie sich leicht und geschmackvoll mit Mozarts Musik, dabei eine durchaus persönliche Handschrift zeigend.
So wie Tromlitz 1791 die notwendigen Eigenschaften von Kadenzen definiert, sind sie willkürlich, überraschend und im Hauptaffekt des Stücks erfunden. Letztlich ist es aber wohl nicht entscheidend, wessen Kadenzen man spielt, wenn sie nur durch die eigene Vorstellungskraft, den persönlichen Willen geformt wurden. Dann wirken sie und dann passen sie auch.
Ursula Pesek