Hölscher, Anne-Maria

Kinder können Kunst

Gespräch mit Gerhard Scherer-Rügert über Neue Musik an der Musikschule

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 52

Neue Musik sei nicht „kindgerecht“, so lauten immer wieder geäußerte Bedenken. Gerhard Scherer-Rügert, Akkordeonlehrer an der Musikschule Paul Hindemith Neukölln und an der Musikschule Friedrichshain-Kreuz­berg sowie Dirigent Neuer Musik, erläutert, wie die Einbindung neues­ter Musik ins pädagogische Reper­toire gelingen kann.

Lieber Gerhard, seit Langem setzt du dich für die Erweiterung des Repertoires für das Akkordeon ein, indem du zum einen selbst neue Werke zur Uraufführung bringst, zum anderen neue Stücke für deine SchülerInnen beauftragst und diese mit ihnen erarbeitest. Was treibt dich dabei an?
Seit Anfang der 1980er Jahre arbeite ich mit KomponistInnen zusammen und organisiere für SchülerInnen neue Kompositionen. Schon mit 15 Jahren übernahm ich die Vertretung eines schwerkranken Lehrers im Dorf. Alsbald merkte ich, dass das vorhandene Repertoire mich nicht zufrieden stellt. So bat ich KollegInnen der Studienvorbereitung, Stücke zu komponieren. Tatsächlich war das Akkordeonorchester, das ich damals leitete, mit Uraufführungen erfolgreich: Wir wurden Landespreisträger bei einem Wettbewerb, das war eine Sensation im Dorf! Das hat mich als junger Mensch angespornt, plötzlich spielte meine Arbeit eine Rolle im Ort und es gab eine Sendung im Saarländischen Rundfunk.
Als Musikpädagoge würde ich sagen, dass durch Einbeziehung Neuer Musik und die direkte Arbeit mit KomponistInnen ein höherer Grad an Identifikation mit dem Instrument bei Kindern und Jugendlichen gelingt. Spätestens in der Pubertät hinterfragen sie, was sie machen und ob es ihnen gut oder weniger gut gelingt. Bis dahin müssen wir also einen Stand erreichen, der sie erkennen lässt, dass man sich mit der Sache Lorbeeren holen kann und dass es sich lohnt, nicht so schnell aufzugeben. Ein ganz profaner Grund für meine Motivation ist also, dass ich möchte, dass die Kinder weiter Akkordeon spielen.
Und ich möchte, dass wir mit unserem Instrument ernsthaft wahrgenommen werden. Solange wir Bearbeitungen z. B. von Klavierliteratur spielen, halten wir dem direkten Vergleich selten stand: Eine pianistische Virtuosität ist im jungen Alter aufgrund der anderen instrumentalen Voraussetzungen am Akkordeon quasi nicht erreichbar. Wenn wir aber überraschen durch besondere Sounds, durch besonderen Umgang mit Timing, durch intensive Interpretation und Verständnis von scheinbar hochkomplexen Sachen, dann bekommen wir gesteigerte Aufmerksamkeit.
Ein weiterer positiver Effekt ist, dass man mit Aufträgen für mehr Diversität sorgen kann: Einen bedeutenden Teil der neuen Stücke haben Frauen komponiert. So kann ich für SchülerInnen Programme zusammenstellen, die auch diesen Aspekt berücksichtigen.

Für Kinder zu komponieren, bedeutet ja auch, sich auf reduzierte Möglichkeiten z. B. hinsichtlich des Tonumfangs oder der instrumentaltechnischen Fähigkeiten der SpielerInnen einzulassen. Wie findest du KomponistInnen, die Lust auf dieses Abenteuer haben? Wann denkst du, dass jemand sozusagen den richtigen Ton für die jungen InterpretInnen treffen könnte?
Das ist tatsächlich auch KomponistInnen klar, dass es nicht einfach ist, für Kinder zu schreiben. Manche lehnen aus diesem Grund die Aufgabe ab, überwiegend aber spüren sie den besonderen Reiz, sich auch mal in diesem Bereich zu bewegen, gern mit meiner Unterstützung.
In Berlin bin ich natürlich an der Quelle, es gibt zwei Hochschulen mit bedeutenden Kompositionsklassen und einen großen internationalen Austausch. Ich fühle mich verpflichtet, das alles zu nutzen für uns und unser Instrument. Da sehe ich meinen Auftrag. Aber es gibt viele Hürden: Man braucht eine Gelegenheit der Aufführung und man braucht Geld, denn ich empfinde es als ungebührlich, diese Arbeit nicht zu bezahlen…

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