Schlimp, Karen

Klänge und Farben

Improvisation am Klavier mit Jenö Takács

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2007 , Seite 28

Neue Musik wird oft als spröde und unzugänglich erlebt, weil der Umgang mit dem Notentext und das verwendete Material nicht so vertraut sind wie bei älterer Literatur. Eine improvisatorische Erschließung von Stücken vermeidet zunächst den Notentext und ermöglicht einen unmittelbareren Zugang zu dieser Musik.

Auf der Suche nach geeigneter Literatur bieten sich einige der Stücke aus dem 1973/74 entstandenen Zyklus Klänge und Farben op. 95 von Jenö Takács an: fünfzehn kleine Stücke, „Miniaturen unterschiedlichsten Charakters“,1 die in die Vielfalt von Stilen und Techniken neuer Musik einführen sollen. Takács greift darin auf Spieltechniken zurück, die schon längere Zeit in Gebrauch waren, wie etwa Spielen im Innenraum, Obertoneffekte, Klangaktionen mit langen Pausen und einiges mehr. Da die Stücke einfach gehalten sind und jedes Stück mit begrenztem Material arbeitet, sind sie für die improvisatorische Arbeit gut geeignet.
Ich wähle aus diesem Zyklus die Kompositionen Klangstudie und Echo, um improvisatorische Einstiege vorzustellen, die zum Verständnis der Komposition hinführen. Außerdem möchte ich an Hand des Stücks Im Uhrladen zeigen, wie Kompositionen als Inspiration für eigene Improvisationen dienen können, die ein Eigenleben abseits des Ursprungsstücks führen.

Methodische Hinweise

Beim Improvisieren auf der Basis von Literaturstücken können verschiedene Wege beschritten werden. Einerseits kann man aus dem Musikstück die kompositorischen Bausteine und die Struktur herausfiltern. Damit kann man improvisieren und diese Improvisation führt zum Stück. Andererseits kann man sich dasselbe Thema wie der Komponist stellen, ohne das Material des Komponisten zu kennen, und selbst Material und Form entwickeln. Für das Erarbeiten gibt es also zwei Wege:
Weg 1: Die Lehrerin kennt das Stück und formuliert Anleitungen > Experimentierphasen mit vorgegebenem Material > Komposition
Weg 2: Die Komposition dient als Inspirationsquelle > Experimentierphasen mit eigenen Ideen > ein neues Stück entsteht, eine von vielen Varianten.
Daraus resultieren folgende Arbeitsschritte:
1. Experimentier- und Erarbeitungsphase, die vom Titel oder vom Thema des Komponisten ausgeht,
2. Aneignung und Üben des musikalischen Materials einschließlich des erforderten Ausdrucks,
3. Phase der Materialeingrenzung oder -erweiterung,
4. Gruppieren und Strukturieren, Finden verschiedener Formen,
5. Entscheidung für eine Form,
6. Vergleich mit der Komposition.
Wenn man sich das Stück improvisatorisch erarbeitet, wird man die Material- und Formvorgaben weitgehend an das Stück anlehnen und deshalb stark eingrenzen.2 In jenen Fällen, in denen das Stück als Inspiration dient, wird das Stück zum Ausgangspunkt, kann mit eigenen Ideen erweitert werden und führt möglicherweise zu ganz anderen Ergebnissen.

Improvisatorische Einstiege

Klangstudie

Das kompositorische Material dieses Stücks besteht aus dem Dialog zweier verschiedener Klänge: abgedämpfte Töne im Innenraum und zartes Staccato im Pedal. Als drittes Element erklingt in der Mitte ein einmaliges Pizzicato (NB 1).

> Experimentierphase ohne festgelegtes Tonmaterial
Spieler A sucht sich zwei Töne auf der Klaviatur, die nahe beieinander liegen.3 Diese werden mit den Fingern auf den Saiten abgedämpft. Zunächst experimentiert der Spieler mit der Position und dem Druck der Finger: Mit welchem Fingerdruck und welcher Anschlagsdynamik erhalte ich den besten Klang? Spielerin B sucht sich in einer anderen Lage ein paar Töne, mit denen sie kommuniziert. Spieler A und Spielerin B gestalten einen Dialog. Einer spielt die im Innenraum abgedämpften Töne, die andere die Staccatotöne mit Pedal. Danach folgt ein Rollenwechsel.

> Materialeingrenzungsphase
Als nächstes wird der Charakter der Tonfolgen festgelegt. Bevor man die dynamischen Vorgaben von Takács verwendet, kann man verschiedene Dynamiken und Schattierungen ausprobieren. Die SpielerInnen nehmen das Stück zur Hand, um die von Takács verwendeten Tonhöhen zu erkunden. Noch immer ist es sinnvoll, die beiden verschiedenen Melodien auf zwei SpielerInnen aufzuteilen, da sie sich dann vom Charakter mehr unterscheiden. Eine Metapher für das Stück könnte sein: ein philosophischer Dialog – zwei sinnierende Persönlichkeiten teilen sich Anschauungen mit, ergänzen sie, suchen beim anderen Zustimmung und hinterfragen. Nun fehlt nur noch das gezupfte gis: Es kommt nur einmal in der Mitte des Stücks vor und hat dadurch eine zentrale Bedeutung. Die Rollen werden nun so aufgeteilt, dass ein Spieler den improvisierten Dialog zwischen beiden Klangmelodien übernimmt, die andere Spielerin wie als Antwort auf alle Fragen das gis einbringt.

> Strukturierungsphase und Vergleich
Beide SpielerInnen spielen je ein eigenes Stück. Sie entscheiden sich für eine bestimmte Reihenfolge und bestimmen die Dramaturgie. Dann wird die Komposition von Takács zum Vergleich gespielt. Im Anschluss können die verschiedenen Möglichkeiten diskutiert werden und auch die Zuhörenden können Feedback geben, welche der Möglichkeiten sie spannend finden.

Echo

Das Stück Echo thematisiert den Obertoneffekt im Klavier, der durch stumm gehaltene Basstöne und darüber liegende Klangaktionen erzeugt wird (NB 2).

> Experimentierphase
Zuerst wird der Echoeffekt des Klaviers erprobt. Die SpielerInnen treten auf das rechte Pedal und singen, sagen und rufen verschiedene Klänge in den offenen Flügel. Das Phänomen der Resonanz wird gemeinsam erläutert. Als Assoziation können Echoeffekte zwischen Felsen in den Bergen dienen. Tiefe Tasten werden mit Hand- oder Ellbogencluster stumm niedergehalten, während ausprobiert wird, welchen Nachklang verschiedene Klangaktionen im Diskant erzeugen. Wie lange ist das Echo im Innenraum hörbar? Diese Phase vertieft und sensibilisiert das Hören, das für die Gestaltung dieses Stücks besonders wichtig ist.

> Materialeingrenzungsphase
Als eine Möglichkeit können folgende Aktionen festgelegt werden: ff-Cluster, schnelle Legatolinie, zarte Einzeltöne im Pedal oder schnell hintereinander gespielte Staccatotöne.

> Gruppieren
Die vier Aktionen aus der vorherigen Phase werden ohne festgelegte Tonhöhe grafisch dargestellt und auf vier Karten gezeichnet (siehe Abbildung). Den meisten SpielerInnen ermöglicht dieser Schritt einen gelösten Umgang mit den musikalischen Gesten, da nicht erst mühsam die Noten gesucht werden müssen.
Die SpielerInnen legen nun eine Reihenfolge der Aktionen fest. Gleichzeitig bestimmen sie auch die Pausen, die zum Beispiel durch unterschiedliche Abstände der Kärtchen am Notenpult dargestellt werden. Die beiden SpielerInnen präsentieren sich gegenseitig ihre Version: z. B. eine Steigerung als Höhepunkt zum Schluss, ein zartes Ausklingen des Echos etc. Gemeinsam wird erläutert, welchen Effekt die gewählte Reihenfolge auf den Zuhörer hat.
Im nächsten Schritt werden vorbereitete Kärtchen mit den Klangaktionen bzw. Motiven von Takács ausgeteilt (NB 3). Zu Beginn ist es vorteilhaft, nur wenige prägnante Motive auszuwählen, deren Anzahl dann im Laufe der Arbeit erweitert wird. Jeder Spieler kann zwei davon kurz üben und dann wird mit diesen vier Motiven ein Stück gestaltet. Dabei werden verschiedene Reihenfolgen ausprobiert und Rollen gewechselt, bis beide SpielerInnen alle Motive beherrschen. Die Anzahl der Motive wird erweitert, technisch schwierigere werden zur Hausübung.

> Finden einer Form
Beide Spieler überlegen sich jeweils eine Dramaturgie ihres Stücks, indem sie die f- oder pp-Aktionen bewusst an verschiedenen Stellen im Stück einsetzen. Das Stück wird gegenseitig vorgespielt und die Wirkung erläutert.

> Vergleich
Nun wird die Komposition von Takács vorgestellt und die eigene Reihenfolge mit der vom Komponisten gewählten verglichen: Was bewirkt seine Reihenfolge? Welche Dramaturgie hat sie? Details des Notentextes und der technischen Ausführung werden noch erläutert und das Stück als Hausübung aufgegeben.

Kompositionen als Improvisationsanregung

Im Uhrladen

> Materialerkundungsphase
Im Uhrladen ist ein Stück, das aufgrund seines Titels schon sehr inspirierend wirkt. Das Sammeln von Assoziationen zu Uhren kann Ausgangspunkt für die nächste Improvisation sein. Eine weitere Inspirationsquelle ist das Stück selbst: Takács benennt manche der verwendeten Uhrenklänge sogar in seiner Partitur. Das Stück erklingt. Die SpielerInnen besprechen, welche Uhren er verwendet und wie sie musikalisch dargestellt sind (NB 4).

> Materialübungsphase
Takács verwendet drei verschiedene Notenwerte, die abwechselnd oder miteinander kombiniert auftreten. Jeder Spieler sucht sich für jeden Notenwert ein gleich bleibendes Muster an Tönen. Diese werden zuerst von verschiedenen SpielerInnen abwechselnd, dann in unterschiedlichen Kombinationen simultan geübt. Im nächsten Schritt ist die Reihenfolge nicht festgelegt und jeder Spieler entscheidet selbst, wann er ein- und aussteigt und welchen Pattern er wählt.

> Materialerweiterungphase
Bei fortgeschritteneren SpielerInnen können zum Beispiel Dreierfiguren eingeführt werden. Polyrhythmische Strukturen wären bei Übereinanderlagerung die Folge. Auch die Dynamik kann mit einbezogen werden durch die Vorstellung, dass man Uhren aus unterschiedlichen Entfernungen hört.

> Strukturierungsphase
Möglichkeiten für formale Abläufe können sein:
– Jeder Spieler überlegt sich zwei bis drei Uhrentypen mit unterschiedlichem Charakter (Tempo, Tonhöhe, Dauer, Klangfarbe) und spielt diese abwechselnd hintereinander, der nächste setzt nach zwei Takten ein.
– Jeder spielt sein Rhythmusmotiv zweimal. Dadurch lösen sich die Taktlängen auf.
– Die Erste spielt so lange, bis der nächste Spieler einsteigt: Das ergibt Überlappungen. Die Erste macht ein fade out (ohne langsamer zu werden), das heißt die Aufmerksamkeit verlagert sich langsam von einer Uhr zur nächsten.
– Erweiterte Formvorgaben, z. B. Zwei-Minuten-Uhrenstücke zu zweit spielen. Sehr lustig ist es, einen Wecker, eine Stoppuhr oder eine Eieruhr als Zeithüter einzubauen. Das akustische Signal kann dann folgende Veränderungen hervorrufen: zum Ende kommen, plötzlich auf halbe oder doppelte Zeit umsteigen, einen neuen Pattern spielen, auf das Klingeln auch mit einem Klingelklang reagieren, abrupt aufhören und mehr.
Als Abrundung könnte man eine freie Aufgabe zu diesem Thema stellen und als Inspiration folgenden Text von Michael Ende verwenden: „Momo kommt dorthin, wo die Zeit herkommt. Da gab es winzige edelsteinverzierte Taschenührchen, gewöhnliche Blechwecker, Sanduhren, Spieluhren mit tanzenden Püppchen drauf, Sonnenuhren, Uhren aus Holz, Uhren aus Stein, gläserne Uhren und Uhren, die durch einen plätschernden Wasserfall getrieben wurden. Und an den Wänden hingen alle Sorten Kuckucksuhren und andere Uhren mit Gewichten und schwingenden Perpendikeln, manche, die gravitätisch gingen, und andere, deren winzige Perpendikeln emsig hin und herzappelten. […] Ununterbrochen klingelte irgendwo ein Spielwerk, denn von allen diesen Uhren zeigte jede eine andere Zeit an.“5

Die improvisatorische Arbeitweise mit Literaturstücken kann zu einem tieferen Verständnis des Stücks führen: durch den freien, spielerischen Umgang mit dem Material und einen intensiven Prozess der formalen Gestaltung. Sie ermöglicht einen Annäherungsprozess zwischen Komponieren und Interpretieren, da sich die MusikerInnen einem ähnlichen Prozess unterziehen, wie der Komponist oder die Komponistin in der Phase der Erstellung des Stücks. Die Resultate können sein, dass manche Stellen der Komposition als besonders interessant erlebt werden, weil der Komponist Ideen hatte, die die SpielerInnen nicht hatten. Es kann aber auch sein, dass manche ihr eigenes Stück besser finden, weil die Identifikation größer ist und ihnen die eigenen Ideen besser gefallen. Die improvisatorische Arbeitsweise entwickelt die Kreativität der Spielenden und führt zu einem gestaltenden Musizieren.

1 Jenö Takács: Klänge und Farben op. 95 für Klavier, Doblinger, Wien/München 1977 (aus dem Vorwort zum Notentext).
2 Andere Autoren wie z. B. Martin Widmaier (in seinem Vortrag bei den Linzer Improvisationstagen im Februar 2007) würden diese Form der Improvisation auch als „differenzielles Üben“ bezeichnen oder „freies Spiel mit kompositorischem Material“, da sich diese Form stark am Stück orientiert (vgl. Martin Widmaier: „Differenzielles Lernen. Sachgemäßes Üben im Randbereich des Lösungsraums“, in: Üben & Musizieren 3/2007, S. 48-51). Ich spreche trotzdem von Improvisation, da nicht alle Parameter festgelegt sind und der Spieler oder die Spielerin über die Gestaltung mancher Parameter
selbst entscheiden kann. Siehe auch: Martin Widmaier: „Musizieren als Übmethode. Kultur kontra Kulturkampf“, in: Üben & Musizieren 6/2003, S. 23-28.
3 Die Beispiele beziehen sich immer auf die Arbeit mit zwei oder mehreren SpielerInnen, können aber problemlos auf einen Spieler oder auf die Rollenaufteilung Spieler/Lehrer adaptiert werden.
4 Am besten man kopiert die Partitur auf etwas stärkeres Papier und schneidet dann die verwendeten Motive aus.
5 Michael Ende: Momo, Stuttgart 1973, S. 144 f.

 

 

 

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