Rembeck, Martin H.

Klavier lernen Punkt für Punkt

Für Sehende und Blinde, in Schwarzschrift/in Punktschrift (2 Bände)

Rubrik: Noten
Verlag/Label: SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte, www.sbs.ch, Zürich 2012
erschienen in: üben & musizieren 3/2012 , Seite 58

Mit seinem Lehrwerk Klavier lernen Punkt für Punkt hat Martin H. Rembeck ein bedeutendes Hilfsmittel für KlavierpädagogInnen geschaffen. Es handelt sich um eine Klavierschule zur gleichzeitigen und gleichwertigen Verwendung für Blinde und Sehende. Das bedeutet das Unterrichten in zweifacher Richtung: vom Blinden zum Sehenden, vom Sehenden zum Blinden. Dass es blinde KlavierlehrerInnen gibt, ist bekannt. Diese finden nun ein Lehrwerk mit Punktnotenschrift, während parallel eine Schwarzschriftausgabe für den sehenden Schüler zur Verfügung steht. In umgekehrter Richtung hat ­sicher schon mancher sehende Klavierlehrer die Anfrage bekommen, eine blinde Schülerin zu unterrichten und sich wegen unlösbarer Schwierigkeiten nicht zu einer Zusage entschließen können oder aber selbst mit viel Ideenreichtum und Irrwegen einen methodischen Weg gesucht. Nun findet der sehende Klavierlehrer ein Lehrbuch vor, das er konventionell lesen und bei dem er parallel die gedruckte Punktschrift für die blinde Schülerin verwenden kann.
Eine Bewertung dieser Ausgaben müsste eigentlich von zwei Seiten aus erfolgen: aus der Sicht des Blinden und derjenigen des Sehenden. Da man als Rezensent aber entweder blind oder sehend ist (wie der Verfasser), bleibt die Beurteilung aus anderer Sicht ein wenig spekulativ. Um aber diesem so wichtigen Werk bestmögliche Starthilfe zu verschaffen, sei es gewagt, es aus einseitiger Sicht zu beschreiben. Der methodische Aufbau folgt einer speziellen Ordnung: Priorität hat das Lesen-Können der Noten und musikalischen Bezeichnungen. So heißen z. B. die ersten Kapitel „Noten und ihre Werte“, „Oktavzeichen“, „Kleine Schritte – große Sprünge“, „Mehrstimmigkeit“ etc.
Eine solche Logik wird verständlich, wenn man bedenkt, dass ein Blinder nie vom Blatt spielen wird, sondern jeweils mit einer Hand lesend, mit der anderen spielend, Stück für Stück, „Punkt für Punkt“ die aus sechs Punkten bestehenden Zeichen erst lesen muss, bevor er sie spielen kann. So sind auch die Übungsstücke nicht in erster Linie an der Spielfreude ausgerichtete Lieder oder Tänze, sondern Lese- und Spielübungen.
Wo in konventionellen Klavierschulen eine möglichst lineare Progression des Schwierigkeitsgrades herrscht, wird hier die Progression in Form einer Sägezahnkurve gestaltet. Der Blick auf die jeweils anvisierte Fähigkeit zeigt, dass speziell für Blinde mit mehr Ausdauer der jeweilige Parameter verfolgt wird, für den eben verstärkt die wirkliche Beherrschung nötig ist.
Diese Klavierschule verwendet bei den leichteren Übungsstücken vorwiegend Eigenkompositionen des Autors und erreicht als beachtliches Lernziel ein gehobenes Sonatinenniveau. Das heißt, dass der Anschluss an weiterführende Literatur keinerlei Probleme macht. Die Gesamtprogression ist durchaus anspruchsvoll.
Trotz aller Erleichterung durch die Verwendung dieser Schule bleiben natürlich große methodische Anforderungen an die Lehrkraft, die mit einem gedruckten Lehrwerk alleine nicht abgedeckt werden können: Ergänzend zu den gedruckten Stücken wird man ohne Improvisationen und auditiv bzw. auswendig vermittelte Lieder, Songs etc. nicht auskommen können. Der sehende Klavierlehrer muss lernen, dem blinden Spieler die gute Spielhaltung, den lockeren Daumen, das flexible Handgelenk über viel Betasten der Hände zu vermitteln, was dem Sehenden anfangs fremd sein dürfte. Umgekehrt: Der blinde Lehrer kann nicht sehen, wie sich die Hände seines Schülers oder seiner Schülerin bewegen. Er muss diese ebenfalls ertastend kontrollieren und das unter Umständen sogar während des Spielens.
Problematisch für blinde SchülerInnen wird immer sein, Sprünge und Positionswechsel der Hände auch zu treffen. Dazu sind keine Übungen gegeben. Diese Fähigkeit wird also der Unterrichtende von Anfang an kontinuierlich selbst aufbauen müssen. Ferner ist das Werk, da seine Herstellung sehr aufwendig und nie rentabel ist, für eine breite Nutzergruppe ausgerichtet – laut Autor „für Kinder und Erwachsene, für Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen geeignet“, was zulasten einer Ausrichtung auf eine spezielle Zielgruppe geht.
Man ahnt, dass diese Art des Unterrichts zwischen Blinden und Sehenden erfahrene, vielseitige, kreative und einfallsreiche PädagogInnen verlangt. Und gerade für solche IdealistInnen mag dieses Unterrichtswerk geschaffen worden sein, das eine Lücke in der klavierpädagogischen Literatur schließt.
Uli Molsen