Gieseking, Walter

Kleine Musik

für 3 Violinen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott/Johannes Oertel Verlag, Mainz 2021
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 61

Walter Gieseking war einer der großen deutschen Pianisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bis zu seinem 16. Lebensjahr hatte er keinen Lehrer und brachte sich offenbar das Klavierspiel selbst bei. Die Leidenschaft für die Erforschung von Schmetterlingen übernahm er von seinem Vater, der hierfür ein berühmter Gelehrter war. Als Pianist wurde Gieseking berühmt für sein Mozart-Spiel. Doch auch Debussy und Ravel faszinierten ihn. Dass er auch komponierte, wird in den gängigen Lexika nicht erwähnt.
Nun erschien im Johannes Oertel Verlag (Edition Schott) eine ganze Reihe von Werken des Pianisten. Erstaunlicherweise komponierte Gieseking nicht primär für sein eigenes Instrument, sondern lieber z. B. für Streichquartett oder eben auch die vorliegende Kleine Musik für drei Violinen.
Man liegt wohl nicht falsch anzunehmen, dass auch der Komponist Gieseking sich seine Kunst hauptsächlich selbst beigebracht hat. Die Kleine Musik für drei Violinen ist stilistisch zwischen Reger, was die Chromatik angeht, Hindemith in Bezug auf die Dissonanzen, Ermanno Wolf-Ferrari hinsichtlich ihrer Leichtigkeit und dem Impressionismus eines Debussy in Bezug auf die reiche Klangfarbenpalette angesiedelt. Wer angesichts der häufigen Chromatik vermutet, dass sie noch tief in der Romantik stecken würde, liegt falsch: Gieseking entfaltet ein musikantisch-spielerisches, oft geistvoll wirkendes Musizieren.
Die Kleine Musik besteht aus drei Sätzen: einem Moderato mit einem eingängigen, liedhaften Thema und einem wie ein Parlando wirkenden Mittelteil. Das Andante ist ein tänzerisches Siziliano und das abschließende „Molto vivace“ fesselt durch seine rhythmischen Impulse und das Wechselspiel der Klangfarben.
Es gibt nicht allzu viel anspruchsvolle Kammermusik für drei Violinen aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Giesekings Kleine Musik ist streichergerecht geschrieben, was bei einem Komponisten, der vom Klavier herkommt, erstaunt. Alle drei Stimmen haben anspruchsvolle Aufgaben. Es verwundert nicht, dass der Mozart-Spieler Gieseking hohe Anforderungen an eine sinnvolle und klare Artikula­tion stellt. Zwar sind diese Stücke technisch nicht überaus schwierig, führen selten weiter als in die dritte Lage hinauf, aber an das Zusammenspiel werden höchste Anforderungen gestellt. Deshalb ist die Kleine Musik auch pädagogisch wertvoll: Fortgeschrittene GeigenschülerInnen können zu dritt eine wunderbare Musik hervorzaubern.
Die Notenausgabe bietet ein klares, gut lesbares Druckbild. Die eingezeichneten Fingersätze des Violinvirtuosen Max Strub, eines Zeitgenossen von Gieseking, sind nicht nur ein aufführungshistorisches Dokument, sondern auch sehr praktikabel. Dass außerdem eine Partitur mitgeliefert wird, ist hilfreich, um das Zusammenspiel zu koordinieren. Fazit: Spielfreude pur sowohl für das Üben als auch für das Musizieren, und zwar durchaus auch auf dem Konzertpodium.
Franzpeter Messmer