© Thomas Hoffmann

König, Bernhard

Klimawandel in der Musikschule

Musikschulen müssen sich und ihre SchülerInnen auf eine radikal veränderte Zukunft vorbereiten

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2023 , Seite 10

Musikschularbeit ist gelebter Klima­schutz. In einer Welt, die sich rasant verändert, können Musikschulen Konser­vatorium und Zukunftslabor in einem sein – vorausgesetzt, sie stehen zu ihren eigenen Stärken und Qualitäten.

Tante Phoebe liebte es, auf dem Klavier quietschende Planwagen oder seefahrende Wikinger zu imitieren. Wenn sie ihrem Neffen John Klavierstunden gab, dann wurden nicht nur Grieg und Mendelssohn gespielt, sondern regelrechte kleine Melodramen erfunden, die passende Kostümierung inklusive.
Herr Sibler, ein würdiger Herr mit Vollbart, unterrichtete ausschließlich klassische Musik. Seinem begabten Schüler Dieter gefiel’s. Nachdem er im Unterricht erstmals eine Beethoven-Sonate gespielt hatte, komponierte er ein eigenes Stück im Beethoven-Stil und legte das Manuskript schüchtern neben das Klavier. Herr Sibler fand die Noten und ermunterte seinen Schüler, mit dem Komponieren weiterzumachen.
Vincenzo Scaramuzza wiederum konfrontierte seinen Klavierschüler Mauro eines Tages mit dem Satz: „Ich glaube nicht, dass du Pianist wirst. Du fragst zu viel.“ Er gab ihm die Taschenpartitur von Schönbergs erster Kam­mersymphonie mit nach Hause. Mauro war begeistert, seine Mutter eher besorgt: Was übt der Junge da?
Die jugendlichen Protagonisten dieser drei Beispiele heißen mit vollem Namen John Cage, Dieter Schnebel und Mauricio Kagel. Alle drei haben mich auf unterschied­liche Weise beruflich geprägt. Ihre LehrerInnen und Vorbilder sind für mich so etwas wie geistige Großeltern. Aber noch sehr viel mehr hat mich meine eigene Klavierlehrerin geprägt. Es war Frau Wagner, die zwischen meinem fünften und zwölften Lebensjahr mit Notenlernkärtchen, Stücken von Kabalewski und Burgmüller und jährlichen Klassenvorspielen die entscheidenden Weichen für meinen späteren Beruf stellte. So wie mir wird es auch vielen anderen MusikerInnen und Musikbegeisterten gegangen sein. Lange bevor sie sich gezielt ihre ganz persönlichen musikalischen Wahleltern suchten, sind sie mehr oder weniger zufällig auf eine Lehrerpersönlichkeit gestoßen, die zu begeistern wusste, eine Begabung erkannte oder eine Saite zum Klingen brachte.

Reisegepäck für eine ­veränderte Zukunft

Früher Musikunterricht kann Menschen fürs Leben prägen. Wer Instrumentalspiel oder Gesang unterrichtet, gestaltet im besten Sinne ein Stück Zukunft. Der eigenen Schülerklientel ein derart nachhaltiges Reisegepäck an potenzieller Freude, Bereicherung und Selbstermächtigung mit auf den Weg zu geben, ist eine besonders schöne Form von Verantwortung. Dabei bleibt naturgemäß vieles offen. Niemand kann voraussehen, was die MusikschülerInnen von heute aus dem, was ihnen mitgegeben wird, machen werden. Niemand weiß, wie die Musik der Zukunft klingen wird. Aber es gibt andere Aspekte von Zukunft, die sich plausibel prognostizieren lassen, weil sie besonders gründlich erforscht sind.
Die Jugendlichen von heute werden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in einer Welt leben, die sich fundamental von der Welt eines Mauricio Kagel oder Arnold Schönberg, einer Ella Fitzgerald oder Clara Schumann unterscheiden wird. Sie wird dichter bevölkert sein, als unser Heimatplanet es je war: Mehr als zehn Milliarden Menschen prognostieren die Vereinten Nationen für das Jahr 2060. Und dies ist noch nicht alles. Die Welt unserer jetzigen Musikschulklientel wird zugleich auch ökologisch unwirtlicher und klimatisch unbeständiger sein, als sie es in der gesamten bisherigen Musikgeschichte war. Auf einen Temperaturanstieg von „deutlich unter zwei Grad“ hatte sich die Staatengemeinschaft 2015 in Paris geeinigt. Doch es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich dieses Ziel noch erreichen lässt.1
Dies wird nicht ohne Folgen bleiben. Im „besten“ Fall werden „nur“ die extremen Wetterereignisse mit all ihren Auswirkungen auf Leib, Leben und Infrastrukturen stark zunehmen. Im Juli 2021 ist uns dieses Szenario hier in Deutschland besonders nahegerückt. Das Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hinterließ tiefe Spuren – auch in der musikalischen Infrastruktur der betroffenen Regionen und Gemeinden. Wertvolle Kirchenorgeln wurden zerstört; mehrere Musikschulen und Laienorchester verloren ihr gesamtes Ins­trumentarium.
Im schlimmsten Fall könnten viele dicht besiedelte Regionen bereits im Laufe dieses Jahrhunderts unbewohnbar werden. Für mehrere Milliarden Menschen könnte das heißen, dass Überschwemmungen, Dürre und Hitze ein Maß annehmen, dem durch Anpassung nur noch schwer standzuhalten ist.2 Viele werden ihre Heimat­regionen verlassen müssen, einige von ihnen werden in unserem reichen, klimatisch gemäßigten Land Zuflucht suchen. Sie werden nicht nur eine geografische Region verloren haben, sondern damit zugleich auch das Land ihrer Ahnen, Überlieferungen und heiligen Stätten. Ihr materielles Hab und Gut wird häufig sehr klein sein. Aber diejenigen, die in jungen Jahren ein musikalisches Vorbild oder eine inspirierende Lehrerin hatten, werden ihre Lieder und musikalischen Erinnerungen im Reisegepäck haben.

Neue Aufgaben für die Musikkultur

Nimmt man dies alles zusammen, dann kann man sich leicht ausmalen, dass unsere Musikkultur im fortschreitenden 21. Jahrhundert auf völlig neue Herausforderungen zu reagieren haben wird. Gerade weil so viele Freiheitsspielräume schwinden werden, wird eine sich erhitzende Welt andere Formen von Schönheit, Selbstermächtigung und zwischenmenschlicher Resonanz brauchen, die ohne zusätzliche Klima- und Umweltbelastung auskommen. Sie wird eine resiliente Musik brauchen, die den Menschen auch dann noch Trost und Kraft spenden kann, wenn der Druck auf Infrastrukturen und globale Lieferketten weiter steigt, Energie noch teurer wird und gekühlte Räume zur Mangelware werden. Sie wird eine regionalisierte Musikkultur brauchen, die Menschen zum Verweilen und zur kulturellen Selbstversorgung einlädt, statt Fernweh, Kauf- und Reiselust zu wecken. Sie wird zugleich aber auch eine weltoffene, neugierige und diversitätsbejahende Haltung benötigen, die das Zusammenrücken von immer mehr Menschen nicht als kulturelle Bedrohung wertet, sondern als Chance für die Entdeckung einer neuen nachbarschaftlichen Vielstimmigkeit.

1 Der aktuelle Emissions Gap Report der Vereinten Nationen prognostiert bis zum Ende des Jahrhunderts einen Temperaturansteig von rund 2,5° C, www.unep.org/resources/emissions-gap-report-2022 (Stand: 22.12.2022).
2 siehe dazu etwa als eine von vielen Studien: Xu, Chi et al: „Future of the human climate niche“, 2020, www.pnas.org/content/early/ 2020/04/28/1910114117 (Stand: 22.12.2022).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2023.