Liedtke, Max / Horant Schulz
Knabenchor – Last, Glück, Lebenschance?
Eine Untersuchung am Beispiel des Windsbacher Knabenchors
Am 20. März dieses Jahres feierte der Leipziger Thomanerchor sein 800-jähriges Bestehen und ein Kenner von Institution und Geschichte der Thomaner sagte, dass sich seit 1212 eigentlich gar nicht viel verändert habe. Was aufs erste Hören zum Lachen reizt, schärft beim Nachdenken den Blick für die Kontinuität stiftenden Besonderheiten dieser Institution. Sie ist nicht geschlossen wie ein Gefängnis oder eine psychiatrische Anstalt, bildet aber doch eine enge, werteorientierte Gemeinschaft in Raum und Zeit. Erzieher und Schüler haben ein Ziel – die elitäre Höchstleistung auf Dauer – und dem haben sich alle unterzuordnen.
Der Windsbacher Knabenchor ist zwar wesentlich jünger als der Leipziger – er wurde 1946 gegründet –, doch zeigt er dieselben Merkmale: Elitebewusstsein, Höchstleistung, dazu die ständige Kontrolle durch Lehrer und der permanente Vergleich unter den Mitschülern.
Aus musikpädagogischer Perspektive tauchen eine Reihe von Fragen auch: Ist die Härte der Lehrer mit dem Verweis auf das Ziel, immer und überall die Besten sein zu wollen, gerechtfertigt? Oder muss man nicht doch von seelischer Misshandlung sprechen? Fördert die abgeschlossene, klar hierarchisch formierte Gemeinschaft sexuelle Abhängigkeiten und Demütigungen?
Internate, Klosterschulen oder – wie die Odenwaldschule – anderweitig ideologisch-elitäre Gemeinschaften haben in jüngster Zeit der Öffentlichkeit einen erschreckenden Blick in ihr Innenleben geboten und der Glaube an das Gute gerade der ambitionierten pädagogischen Projekte fällt mittlerweile schwer.
Hohe Aufmerksamkeit für die düsteren Seiten einer Elitegruppe mit einem grundsätzlich offenen Blick für Glück und Lebenschancen der Choristen hat die Untersuchungen geleitet, die jetzt in umfassender und fein differenzierender Interpretation als neuer Band der Augsburger Schriften vorliegen. Wie schwierig es ist, ein klares Bild von den Erfahrungen der befragten Choristen zu gewinnen, zeigt das folgende Beispiel. Da antwortete ein Proband auf die Frage, ob er Windsbach weiterempfehlen würde, mit der Aussage: „Nein. Das ist nichts für Kinder!“ Dieser Mann hatte damit dennoch keinen Blick zurück im Zorn geworfen. Er war neun Jahre lang Chorist und gab an, das hohe Anspruchsniveau der Windsbacher sowohl in seine berufliche als auch in seine private Lebensführung übernommen zu haben.
Die Daten der Untersuchung entstammen der Dissertation von Horant Schulz (2002), der die Abschlussjahrgänge 1947 bis 1996 befragt hat, und einer Studie von 2011, die die Jahrgänge 1997 bis 2010 berücksichtigt hat (Max Liedtke).
Wer nun denkt: „Evangelischer Knabenchor? Das ist ja ein sehr spezielles Thema!“, der wird durch das Buch eines Besseren belehrt. Nicht nur, weil es klug argumentiert und sehr gut geschrieben ist, sondern weil es ein anschauliches Bild davon liefert, wie sich im Lauf der Zeit die Härte des christlichen Erziehungsideals abschwächte, wie die Ächtung körperlicher Züchtigung zur neuen Norm wurde und wie gefährdet die Personen in ambitionierten, geschlossenen Gemeinschaften sind, einander zu quälen, allerdings auch zu Höchstleistungen anzuspornen.
Kirsten Lindenau