Ardila-Mantilla, Natalia

Kochen nach Rezept?

Über Pedanten und Experten – in der Küche und beim ­Lehrerwerden

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2009 , Seite 12

Musikpädagogisches Seminar, erstes Semester: Meine Studierenden be­mühen sich um Metaphern für gutes Unterrichten. “Ein guter Lehrer ist wie ein Gärtner, der gießt und düngt, aber die Blumen nicht zum Wachsen zwingen kann”, sagt der eine. “Naja, unter idealen Bedingungen, vielleicht”, erwidert eine andere, “aber in der Musikschule sind die beliebtesten Lehrer eher wie Alleinunterhalter.” Feuerwehrmann, Jongleur, Filmstar, Seelsorger – die Liste scheint kein Ende zu haben –, Polizist, Straßen­kehrer… Koch?

Ich muss lächeln: Ein guter Lehrer mag wie ein Koch sein, aber hoffentlich kein Koch wie ich. Ich bin zwar eine recht passable Köchin. Ich mag keine flambierten Desserts oder gefüllten Truthähne auftischen können, aber das Zubereiten einer genießbaren dreigän­gigen Mahlzeit für sechs Leute bringt mich nicht (mehr) aus der Fassung. Im Laufe vieler Jahre habe ich eine überschaubare Liste von Speisen für verschiedene Gelegenheiten angesammelt, die beständig wächst und so gut wie immer erfolgreich bewältigt wird. Aber: Ich gehöre zweifellos zu jener Kategorie, die Julian Barnes treffend als „der Pedant in der Küche“1 bezeichnet hat. Meine Rezepte stehen in Kochbüchern – nicht im Kopf – und werden penibelst eingehalten: Garzeiten, Mengen, Temperaturangaben. Und nichts regt mich so auf wie jene Rezepte, in denen empfohlen wird, „so viel Mehl zuzufügen, bis ein recht fester Teig entsteht“ (ab wann gilt ein Teig als „recht fest“, bitte?) oder „frische Früchte der Saison zu nehmen und nach Bedarf zu süßen“ (nach Bedarf, klar, als ob es möglich wäre, im Voraus zu wissen, ob die Füllung nach dem Backen süß genug sein wird). Also so ein starr „nach Rezept kochender“ Lehrer – ich weiß nicht, ob ich mich mit diesem Bild anfreunden kann.
Andererseits gibt es meine Freundin S. Bei ihr stimmt das Bild doch. In unserer gemeinsamen Wohnung saß ich stundenlang bei ihr und durfte staunend mitverfolgen, wie sie aus den billigen Lebensmitteln, die unser knappes Studentenbudget zuließ, gastronomische Kunstwerke zauberte. Sie backte unglaubliche Kuchen – natürlich ohne Rezept – und von denen gab es so viele Varianten wie bei uns Gäste: schokoladige, vegane, cremige, fruchtige, fettfreie… Auf jeden Einzelnen wurde individuell eingegangen. In plötzlichen Inspirationswellen nahm sie Gewürzflaschen in die Hand und schüttete elegant bunte Pulverstraßen in die Töpfe, die sich zu unerwarteten, hoch interessanten, immer köstlichen Geschmacksnoten entwickelten. Und ihre Käsetoasts! Sie bestanden – genauso wie meine – aus drei Zutaten: Käse, Brot und Butter. Aber es entstand aus diesen einfachen Mitteln ein solch knuspriges, schmelzendes, genau abgestimmtes Ganzes, dass mir noch heute das Wasser im Mund zusammenläuft. In der Küche war bei ihr alles in Fluss und sie schien immer in der Lage zu sein, genau das Richtige zu tun – oder zu unterlassen –, um diese wunderschöne, dynamische Balance am Laufen zu halten. Ja, von solchen kreativen, flexiblen und sensiblen LehrerInnen würde ich mir mehr wünschen.
Was genau aber unterscheidet S. und mich? Wie lässt sich unser Handeln beschreiben? Wo beginnt ihr Zauber und wo endet meine minutiöse Kochfertigkeit? Vor allem: Ist meine Pedanterie eine unüberwindbare Charaktereigenschaft oder wäre es möglich, irgendwann in die Höhen von S.’ Kochkunst zu gelangen? Und wie ließe sich das bewerkstelligen? Mein Blick schweift zurück in die Runde meiner IGP-Studierenden: Gibt es eigentlich unter ihnen auch didaktische Pedanten und Experten? Und gibt es besonders adäquate Strategien, um sich das didaktische Handwerkszeug anzueignen bzw. pädagogische Expertise zu erwerben?

1 Ausdrücklich sei hier auf Julian Barnes’ wunderbare Erzählung hingewiesen, der dieser Artikel einiges verdankt: Julian Barnes: The Pedant in the Kitchen, London 2003.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2009.