Mermikides, Bridget

Kompendium der ­Klassischen Gitarre

Klassische Meisterwerke, bearb. für Gitarre solo, mit 2 CDs

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Hal Leonard, Milwaukee 2014
erschienen in: üben & musizieren 6/2014 , Seite 56

Was im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert bei Francisco Tárrega, Agustín Barrios oder Andrés Segovia üblich war, nämlich klassische Meisterwerke zwecks Repertoireerweiterung für Gitarre zu bearbeiten, ist seitdem aus der Mode gekommen. Langsame Sätze aus Beethovens Klaviersonaten (Pathétique und Mondscheinsonate), Schumanns Träumerei, Chopin-Préludes oder Bachs bekannte Air: Insgesamt 31 solcher Highlights der klassischen Musik zwischen Pachelbel und Satie sind in diesem 156 Seiten starken Band in Bearbeitungen für Gitarre solo der englischen Gitarristin Bridget Mermikides versammelt und auf zwei beigelegten CDs tonschön und in ruhigen Tempi eingespielt. Vorangestellt sind im ersten Viertel des Bandes technische Übungen zu Akkordzerlegungen, Bindungen, Tonleitern und zweistimmigem Spiel, jeweils gefolgt von einer Etüde. Wer die anschließenden Werke aber spielen will, sollte in seiner Technik weit über dieses Stadium hinaus sein. Unter die Notenschrift ist jeweils die Tabulatur gedruckt.
Harmonische Vereinfachungen, Ausdünnen komplexer Akkorde, Reduzieren von Begleitstimmen: All das sind Kompromisse, die man schließen muss, wenn man solche Werke für Gitarre bearbeitet. Dem Vergleich mit dem Original können einige Bearbeitungen durchaus standhalten, manche wie Ravels Boléro oder Wagners Walkürenritt fallen gegenüber einem Sinfonieorchester natürlich deutlich ab. Und die Arie Nessun dorma aus Puccinis Turandot kann man in dieser Fassung für Gitarre solo auch nicht ansatzweise mit einer Aufnahme von Luciano Pavarotti vergleichen.
Manche kuriose Bearbeitung – an Hits der Klassischen Musik vermisst man nur Bachs d-Moll-Orgeltoccata – lässt einen zwar unwillkürlich schmunzeln, gleich­zeitig macht einem ein solcher Band aber auch bewusst, wie wenig das Originalrepertoire für Gitarre aus dem 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert diesen Werken qualitativ entgegenzusetzen hat. Auch wenn es sich bei dieser Notenausgabe mit Sicherheit nicht um ein Kompendium der Klassischen Gitarre handelt, wie der Titel vorgibt, seien zu Studienzwecken alle der hier bearbeiteten Stücke empfohlen: zum häuslichen Musizieren oder zum Auffrischen der musikalischen Bildung.
Unklar bleibt jedoch, jenseits von Studienzwecken, die Zielgruppe dieser Ausgabe. Natürlich gibt es manchmal SchülerInnen, die Klassiker wie Bachs Jesus bleibet meine Freude, Mozarts Rondo alla turca, Beethovens Für Elise oder Schuberts Ave Maria spielen wollen, aber die hier vorliegenden Bearbeitungen sind zwischen Mittel- und Oberstufe anzusiedeln und damit für die meisten SchülerInnen zu schwierig. Und welcher konzertierende Gitarrist wird sich mit dem Adagio aus Mozarts Klarinettenkonzert auf die Bühne stellen? Die Zeiten von Tárrega, Barrios und Segovia sind längst vergangen.
Jörg Jewanski