Heiland, Konrad (Hg.)

Kontrollierter Kontrollverlust

Jazz und Psychoanalyse

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Psychosozial-Verlag, Gießen 2016
erschienen in: üben & musizieren 1/2017 , Seite 53

Dass improvisierende Jazzmusiker mit Patienten der Psychoanalyse verglichen werden, mag manche überraschen. Doch die Zusammenhänge sind offensichtlich, wenn man dem Sammelband über „Jazz und Psychoanalyse“, herausgegeben von Konrad Heiland, glauben will. Griffiger ist der Titel Kontrollierter Kontrollverlust, um den fast alle Beiträge kreisen.
An der Verbindung von Jazz und Psychoanalyse lassen sämtliche Autoren, die freilich verschiedene Blickwinkel beziehen, keinen Zweifel, zu sehr sind sie in ihrem Metier verwurzelt. Herausgeber Heiland, ärztlicher Psychotherapeut und klinischer Musikthe­rapeut mit Lehrtätigkeit an verschiedenen Institutionen, betont im Vorwort die Parallelentwicklung von Jazz und Psychoanalyse. Die psychoanalytische und die improvisatorische Praxis sind eins. Bei beiden geht es um Vorausschreiten in assoziativen Ketten. Bei der Improvisation, die mit Spannung zwischen Loslassen und Steuern gleichzusetzen ist, verbindet sich Bewusstes mit Unbewusstem. Folglich versteht der Autor den Jazzkeller als „dunkle Hölle, in dem eine entfesselte Musik stattfindet und auch die Schattenseiten der Seele erklingen“. Das idealtypische Bild – längst sind andere Phänomene in der Jazz-Szene ­virulent – wird mit der Realität konfrontiert: Psychoanalyse und Jazz „haben ihre Blütezeit hinter sich“.
Nichtsdestotrotz wird dem kont­rollierten Kontrollverlust weiter ernsthaft nachgegangen und der Parallelentwicklung beider Strömungen werden weitere Entspre­chungen hinzugefügt. Zunächst erläutert Theo Piegler in einem recht theoretischen Beitrag die „Geschichte der Psychoanalyse“, was nur Eingeweihte interessieren dürfte. Die Theorien, die die Autoren, meist ausgewiesene Kenner der einen, mitunter auch der anderen Materie, darstellen, spitzen sich auf die Tatsache zu, dass in der Therapie die freie ­Assoziation fruchtbar gemacht wird und dass im Jazz sich die Möglichkeiten gerade durch die Improvisation entfalten. Die psychischen Vorgänge, die bei der Improvisation ablaufen, schildert Jörg Scharff, praktizierender Musiker, eindringlich. Theoretischer dann wieder Sebastian Leikert, der spezifische Eigenschaften des Jazz mit der Begrifflichkeit der Psychoanalyse von Jac­ques Lacan in Verbindung bringt. Dass auch Abwehrmechanismen, „wie sich diese bei der Konfrontation mit disharmonischen Klängen und unvertrauten Harmonien einschalten können“, im Spiel sind, schildert Hannes König.
Die theoretischen Betrachtungen werden ergänzt durch Porträts einzelner weniger Musiker, die einem kurzen psychoanalytischen Check unterzogen werden. Und dass dem einst allmächtigen Jazz-Papst Joachim-Ernst Berendt, der den Jazz in Deutschland hoffähig machte, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung bescheinigt wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Der Versuch des vorliegenden Sammelbandes, erstmals Verbindungen zwischen Jazz und Psychoanalyse anzugehen, ist verdienstvoll.
Reiner Kobe