© Lucija Novak

Schmidinger, Helmut

Kreativitätslabor Pubertät

Musikalische Kreativität und Pubertät – zwei ergebnisoffene Prozesse im Vergleich

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2018 , Seite 06

Kreativität und Pubertät sind Schlag­wörter, die im musikpädagogischen Diskurs zunehmend an Bedeutung gewinnen.1 Dieser Beitrag macht sich auf die Suche nach den Schnitt­mengen und Berührungspunkten – nach dem „heißen Draht“ zwischen Pubertät und Kreativität.

Meine Ausführungen gründen auf einer Vorlesungsreihe an der Kunstuniversität Graz im Wintersemester 2017/18, in deren Rahmen ich versucht habe, Studierenden der Instrumental- und Gesangspädagogik Anregungen und Modelle aufzuzeigen, die ihnen ermög­lichen, neue Ansätze und Sichtweisen aus dem Naheverhältnis von Pubertät und Kreativität für ihren Unterricht zu gewinnen. Beiden „großen“ Begriffen ist eine terminologische Unschärfe in der umgangssprachlichen Verwendung zu eigen. Ich verwende in diesem Beitrag den Begriff der Pubertät im allgemeinen Sprachsinn und unterscheide nicht zwischen Pubertät als primär körperlichem und Adoleszenz als primär psychischem und sozialem Reifungsprozess. Der Begriff der Kreativität fokussiert im Folgenden auf musikalische Kreativität.
Wenn wir von musikalischer Kreativität im Unterrichtskontext sprechen, denken wir in erster Linie an Improvisation und Komposi­tion als zentrale Möglichkeiten zur Einführung kreativer Prozesse im unterrichtlichen Handeln, wobei die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation mehr als fließend sind. Daher ist nicht nur in der Instrumental- und Gesangspädagogik, sondern auch in der Kompositionspädagogik – einer sich an Musikschulen wie allgemeinbildenden Schulen zunehmend konturierenden, noch sehr jungen Fachrichtung der Musikpädagogik – die Verknüpfung von Pubertät und Kreativität eine zentrale Fragestellung.

Kreativ – Besonders in der Pubertät

Eine bis heute wichtige Untersuchung des Zu­sammenhangs von Pubertät und Kreativität anhand der Komponierfähigkeit bei Jungen und Mädchen und unter besonderer Berücksichtigung biologischer und psychologischer Einflüsse hat Marianne Hassler 1998 vorgelegt.2 Und in Bezug auf die Bedeutung der Kreativität erkennt Andreas Reckwitz 2012 für unsere heutige Zeit einen kreativen Imperativ: „Kreativität in spätmodernen Zeiten um­fasst beides: Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ. Man will kreativ sein – und man soll es sein.“3 Diesem Imperativ kann sich auch die Musikpädagogik nicht entziehen und so finden sich erfreulicherweise immer mehr „kreative“ Angebote in den universitären Curricula und Fortbildungs­angeboten im Bereich der Instrumental- und Gesangspädagogik. Was meist noch fehlt, ist der nächste Schritt: ein fest verankertes Angebot, um Modelle und Ansätze zu lehren, kreative Prozesse zu initiieren und über einen längeren Zeitraum zu begleiten, gleichsam eine „Didaktik kreativer Prozesse“.4
In der umfangreichen Literatur zum Thema Pubertät findet sich in einer Publikation von Bernhard Stier und Katja Höhn 2017 folgende Feststellung: „Durch all die Umbauprozesse im pubertierenden Gehirn ist so manche Funktion vorübergehend beeinträchtigt. Auf drei Eigenschaften können wir uns jedoch auch in diesen stürmischen Zeiten verlassen: die Kreativität, den Ideenreichtum und die Fantasie.“5 Damit ist der „heiße Draht“ zum Glühen gebracht und Kreativität als eine Eigenschaft, ein Wesensmerkmal von Pubertät benannt. Eine genauere terminologische Durchleuchtung der Trias „Kreativität, Ideenreichtum und Fantasie“ würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Beide Aussagen, sowohl jene von Reckwitz als auch die von Stier und Höhn, implizieren bereits die Sichtweise, dass Kreativität – spätestens seit Joy Paul Guilford6 – ein Handlungsmerkmal ist, das nicht nur einigen wenigen Genies vorbehalten, sondern in mehr oder weniger großem Ausmaß allen Menschen eigen ist. Und in besonderem Maße eben in der Phase der Pubertät, die in der Regel von den Erwachsenen mit Handlungsweisen von Jugendlichen verknüpft wird, die weniger positiv besetzt sind. Da nun die Pubertät im Rahmen der Professionalisierung von Musizierenden eine entscheidende Rolle spielt7 und sich die musikalischen Präferenzen in dieser Zeit nochmals verändern, verdient diese Phase unsere besondere Aufmerksamkeit.

1 vgl. dazu Kai Stefan Lothwesen: „Kreativität in der Musikpädagogik. Anmerkungen zu Begriffsverständnis und Thematisierungskontexten“, in: Jürgen Vogt/Frauke Heß/ Markus Brenk (Hg.): (Grund)Begriffe musikpädagogischen Nachdenkens. Entstehung, Bedeutung, Gebrauch, Sitzungsbericht 2013 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik,Lit, Münster 2014, S. 183-212, www.researchgate.net/publication/267513024_Kreativitat_in_der_Musikpadagogik_Anmerkungen_zu_ Begriffsverstandnis_und_Thematisierungskontexten_Creativity_in_Music_Education_Notes_on_conceptualisations_and_ contexts_of_its_discussion (Stand: 1.10.2018).
2 vgl. Marianne Hassler: Musikalische Begabung in der Pubertät. Biologische und psychologische Einflüsse, Wißner, Augsburg 1998.
3 Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Suhrkamp, Berlin 2013, S. 10.
4 vgl. dazu Reinhard Gagel: Improvisation als soziale Kunst. Überlegungen zum künstlerischen und didak­tischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität, Schott, Mainz 2010.
5 Bernhard Stier/Katja Höhn: Abenteuer Pubertät. Was sich die Natur dabei gedacht hat, Kösel, München 2017, S. 150.
6 vgl. Joy Paul Guilford: „Creativity“, in: American Psychologist, Volume 5, Issue 9, 1950, S. 444-454.
7 vgl. Heiner Gembris: Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, Wißner, Augsburg 1998, S. 341.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2018.