Behschnitt, Rüdiger

Langwieriger Prozess

In „Marios Musikschule“ in Bonn ist die Digitalisierung bereits weit vorangeschritten

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 08

1975 prägte der Physiker George E. Pake in seinem Artikel „The Office of the Future“1 den Begriff „paperless office“. Er ging damals davon aus, dass etwa um 1995 Papier in Büros deutlich reduziert oder gar ganz verschwunden sei. Doch von der Vision eines „papierlosen Büros“ sind wir trotz fortschreitender Digita­lisierung noch weit entfernt. Und eine „papierlose Musikschule“ scheint nahezu undenkbar. Oder etwa nicht?

Wer die Unterrichtsräume von „Marios Musikschule“ in Bonn betritt, blickt sich erstaunt um: Keine Notenständer sind zu sehen, keine Notenhefte oder Kopien, keine Bilder an den Wänden – dafür in jedem Raum ein großer Flatscreen an der Wand. Mario Müller, Vorsitzender des Bundesverbands der freien Musikschulen (bdfm), betreibt bereits seit 30 Jahren im Raum Bonn eine freie Musikschule, an der mittlerweile an vier Standorten ca. 1300 Schü­lerinnen und Schüler unterrichtet werden. Seit Kurzem hat er seine Musikschule komp­lett digitalisiert: In jedem Unterrichtsraum hängen große Displays, jede Lehrkraft wurde mit einem Tablet ausgestattet.
Selbstverständlich wird auch in „Marios Musikschule“ nach Noten unterrichtet. Doch gerade für den Anfängerbereich liegt inzwischen für alle Instrumente2 selbst erstelltes Unterrichtsmaterial in digitaler Form vor und kann aus einer umfangreichen Datenbank abgerufen werden. Score & Play nennt sich das über viele Jahre entwickelte Unterrichtskonzept.3 Wo früher die Lehrperson zur Ergänzung einer Instrumentalschule zahlreiche Fotokopien mit zusätz­lichen Übungen und kleinen Stücken erstellen musste, kann sie nun je nach Lernfortschritt individuell für den jeweiligen Schüler oder die Schülerin Übungen im passenden Level aus der Datenbank zusammenstellen. Und auch die Lernenden selbst können mit ihrem Onlinezugang von zu Hause aus im digitalen Notenfundus stöbern und sich eigenständig Stücke heraussuchen.
Auch die digitalen Noten können „handschriftlich“ elektronisch – zum Beispiel mit dem Apple-Pen – mit individuellen Fingersätzen, Artikulations- und Atemzeichen versehen werden. Für jeden Schüler wird sein Übungsmaterial in seiner persönlichen digitalen, passwortgeschützten Notenmappe abgelegt. Hierfür arbeitet das Kollegium von „Marios Musikschule“ mit dem Programm EverNote, das als Freeware zur Verfügung steht. Und die digitale Datenbank wächst kontinuierlich: Inzwischen beschäftigt die Musikschule ein eigenes Autorenteam, das beständig neues Unterrichtsmaterial liefert. Doch auch die Lehrkräfte selbst können ihre selbst erstellten Übungen und Unterrichtswerke in die Datenbank einstellen, wo sie nach einer qualitativen Überprüfung durch die Teamleiter freigeschaltet werden.

Bewusste Reduktion

Gespielt wird direkt vom Bildschirm, der mit dem Tablet gesteuert werden kann. Das Spiel vom Screen habe noch einen weiteren Vorteil, so Müller: „Die Schüler stehen viel aufrechter und mit besserer Körperhaltung da, als wenn jeder in seinen Notenständer starrt.“ Bei Tasteninstrumenten wird hingegen direkt vom Tablet gespielt. Das Notenbild auf dem Screen wirkt schnörkellos. Wollte man es negativ formulieren, so könnte man es als steril und langweilig bezeichnen: keine Bilder, Grafiken, Zeichnungen, keine Farben – nur das nackte Notenbild, schwarz auf weiß.
Doch diese Reduktion ist eine bewusste Entscheidung. „Immer mehr Kinder, die zu uns kommen, leiden unter Konzentrationsstörungen bis hin zu ADHS“, berichtet Müller. „Unsere Lehrer haben die Erfahrung gemacht, dass der Unterricht desto besser läuft, je weniger Ablenkung für die Kinder vorhanden ist. Daher präsentieren wir bewusst nur das reine Notenbild und haben uns auch dafür entschieden, kei­ne Bilder an die Wände zu hängen.“ Dennoch wirken die Unterrichtsräume nicht kahl oder ungemütlich. Farbige Wände und angenehme Materialien am Boden wie Teppich oder Parkett sorgen für eine schöne Unterrichtsatmosphäre.
Doch wie funktioniert das Üben zuhause? Braucht nun jedes Kind in „Marios Musikschule“ ein eigenes Smartphone? „Keineswegs“, beschwichtigt Müller, „die Rückkopplung der digitalen Medien an die analoge Welt ist wichtig.“ Selbstverständlich erhält jeder Schüler auf Wunsch seine Noten ausgedruckt und auch im Bereich der musikalischen Früherziehung wird zusätzlich mit physischen Heften gearbeitet. Doch jenseits von Anfängerstückchen und Etüden erreicht das digitale System seine Grenzen. Natürlich möchten auch die Schülerinnen und Schüler an „Marios Musikschule“ irgendwann Mozart, Beethoven oder Beatles spielen. Für Fortgeschrittene, die beginnen, sich das musikalische Repertoire ihres Instruments zu erarbeiten, steht daher eine umfangreiche physische Notenbibliothek mit Literatur zum Ausleihen zur Verfügung – auch hier erfolgt die Recherche und Reservierung online.

Musik-Apps und Videos

Begleitet wird das Lernen darüber hinaus durch Musik-Apps, die mittlerweile in den App-Stores zu Hunderten zur Verfügung stehen. Die Auswahl und Beschränkung auf wenige Apps für jedes Instrument war ein langwieriger Prozess, in den das gesamte Lehrpersonal eingebunden war. „Jedes Team hat verschiedene Apps für das eigene Instrument getestet und selbst entschieden, mit welchen Apps man arbeiten möchte.“ Regelmäßig eingesetzt werden mittlerweile bereits „klassische“ Apps wie GarageBand oder EarMaster, aber auch Rhythm Village oder die Musik-Apps von herrdertoene.de.
Derzeit arbeiten die Lehrkräfte daran, eine Datenbank mit kleinen Unterrichts­videos aufzubauen, in denen einzelne tech­nische Probleme veranschaulicht werden. So können die Schülerinnen und Schüler, wenn beim häuslichen Üben Fragen auftauchen, auf Videos zurückgreifen. Die Videos können Hilfestellung leisten, interaktiv ist das System jedoch nicht. Die ­Musikschule möchte mit den Videos ein Hilfsangebot zur Verfügung stellen, jedoch keinen Online-Kurs. „Denn der persönliche Kontakt zum Lehrer“, das steht auch für Mario Müller fest, „ist durch nichts zu ersetzen.“
Doch sehen nicht viele Eltern gerade das Erlernen eines Instruments als Gegengewicht zu den immer aufdringlicheren Verlockungen einer digitalisierten Umwelt? Mario Müller gesteht ein, dass der von ihm gewählte Weg der Digitalisierung, der an seiner Musikschule hervorragend funktioniert, nicht für jede Musikschule an jedem Ort der richtige sein muss: „Vielleicht haben wir in Bonn durch die Telekom als einen der größten Arbeitgeber eine Elternschaft, die gegenüber digitalen Medien besonders aufgeschlossen ist.“ Ein Kollege mit einer Musikschule im länd­lichen Raum habe genau den entgegengesetzten Weg gewählt. „Dort heißt es: In der Musikschule herrscht absolutes Handy-Verbot, die Musikschule fungiert quasi als Schutzzone vor digitalen Medien. Und auch diese Musikschule findet ihr Publikum!“

Finanzielle und zeitliche Investition

Und wie sieht es mit den Kosten für eine digitale Erstausstattung aus? Mario Müller hat an den vier Standorten seiner Musikschule insgesamt 24 Räume mit Displays (zu je 250 Euro) und Sendern (zu je 80 Euro) ausgestattet, also eine Summe von 7920 Euro investiert. Für seine Lehrkräfte hat er 25 iPads angeschafft, die er zu einem günstigen Preis von je 270 Euro, zusammengerechnet also für 6750 Euro erwerben konnte. Die Gesamtinvestition für die Hardware belief sich also auf knapp 15000 Euro.
Dass es jedoch mit Hardware allein nicht getan ist, kann man an den oftmals noch hilflosen Digitalisierungsbemühungen im Bereich der allgemeinbildenden Schulen beobachten. Dort stehen oft komplette Klassensätze an neuen Geräten (Tablets, Laptops etc.) oder auch Whiteboards in jedem Klassenraum zur Verfügung. Doch es fehlt an Lehrerinnen und Lehrern, die damit umzugehen wüssten – und vor allem an einem digitalen Unterrichtskonzept! Die – vor allem zeitlich gesehen – größere Investition fällt daher im Bereich der Schulung des Lehrpersonals an.
In Mario Müllers Musikschule war dies ein recht langfristiger Prozess. Die Entwicklung des digitalen Konzepts erfolgte in Teamarbeit. Und alle sechs Wochen fanden Teamleiterbesprechungen statt. „Über einen Zeitraum von mehreren Monaten fielen etwa zehn Prozent bezahlte Überstunden an“, so Müller – wobei an „Marios Musikschule“ alle Lehrkräfte fest angestellt sind.
Doch vor einem der größten Probleme, das überall in Deutschland einer Digita­lisierung entgegensteht, ist auch Müller nicht gefeit: Selbst in der Telekom-Stadt Bonn hat „Marios Musikschule“ mit unzuverlässiger Internetverbindung zu kämpfen: „Gleich zu Beginn unseres digitalen Unterrichtskonzepts brach erstmal alles zusammen.“ Daher müssen grundsätzlich alle Lehrkräfte auch weiterhin in der Lage sein, offline mit dem Tablet oder mit herkömmlichen Noten zu arbeiten. Die digitale Musikschule mag wie das „papierlose Büro“ vielerorts noch in weiter Ferne liegen. Doch Mario Müller hat mit seiner Musikschule bereits ein großes Stück des Weges hinter sich gebracht.

1 erschienen am 30. Juni 1975 im Wirtschafts­magazin BusinessWeek.
2 Derzeit werden in „Marios Musikschule“ folgen­de Instrumente angeboten: Akkordeon, Keyboard, Klavier, Steirische Harmonika, Gitarre, E-Gitarre, E-Bass, Ukulele, Bouzouki, Laute/Oud, Saz, Schlagzeug, Cajon, Darbuka, Blockflöte, Saxofon, Klarinette, Geige, Zauberharfe und Gesang.
3 www.mamu-play.de (Stand: 30.9.2019).