Grosse, Thomas
Lauern statt versauern
Optionen pädagogischer Haltungen im JeKits-Unterricht
„Vom Lauern auf den Moment“ – mit diesem Motto hat die JeKits-Stiftung im Jahr 2017 ihre Arbeit begleitet. Der JeKits-Praxistag trug diesen Titel ebenso wie eine Publikation zur Arbeit der JeKits-Akademie. Der folgende Beitrag basiert auf einem Vortrag anlässlich des JeKits-Praxistages 2017 an der Universität Bielefeld.
Der Begriff „Lauern“ beschreibt etwas Spannungsvolles. Selbst wenn das „Auflauern“, also „in hinterhältiger Absicht sich in einem Versteck sicher verbergend angespannt zu warten“, unberücksichtigt bleibt, geht es doch um die Grundhaltung: Wer lauert, wartet auf einen besonderen Moment. Bleibt die Chance ungenutzt, muss auf die nächste gewartet werden. Dieses Lauern im Sinne von „angespannt, begierig auf etwas warten“ bietet Chancen, das Unterrichtsgeschehen im Programm JeKits farbiger und souveräner zu gestalten.
Trotz der Anspannung hat Lauern passive Anteile. Wer lauert, gibt seine Handlungsoptionen auf, lässt die Dinge laufen, überlässt eine Situation möglicherweise für einige Zeit sich selbst: Kontrollverlust droht. In der Arbeit mit Gruppen besteht das Risiko, dass sofort die Disziplin nachlässt. Ist das professionelles pädagogisches Handeln? Zeichnet sich Unterricht nicht gerade dadurch aus, dass die Lehrenden „Momente“ aktiv herbeiführen, statt darauf zu lauern? Und selbst wenn die Idee mit dem „Lauern auf den Moment“ zunächst originell wirken mag: Welche Momente sind denn die erstrebenswerten, auf die es zu lauern lohnt?
Zum einen handelt es sich um Augenblicke, die Chancen eröffnen, den Unterricht gewinnbringend zu gestalten – durch Methodenwechsel oder eine spielerische, motivationsfördernde Idee, gerne auch aus dem Kreis der Schülerinnen und Schüler. Es bietet sich eine Option, die Unterrichtseinheit entlang der Bedürfnisse der Unterrichtsgruppe fortzuführen. Zum anderen ergeben sich Momente mit Aha-Effekten, in denen etwas gelingt, was in verschiedenen Anläufen nicht erreicht wurde. Das kann die Vermittlung von konkreten Lerninhalten ebenso betreffen wie auch Situationen, in denen in einer anderen Qualität musiziert wird, also besonders gelingende Interaktion, Klanglichkeit oder Selbstvergessenheit der Schülerinnen und Schüler.
Gemeinsam ist solchen Augenblicken ihre Unplanbarkeit: Sie lassen sich nicht vorhersehen, mithin auch nicht konkret herbeiführen. Es geht weniger um eine musikalisch-künstlerische als um eine allgemein-pädagogische Fragestellung. Deshalb soll der Blick auf ein anders gelagertes und doch verwandtes Arbeitsfeld in diesem Zusammenhang Anregungen geben. Beim Musizieren in der Sozialen Arbeit, zu der auch die Sozialpädagogik gehört, zeichnet sich Musik dadurch aus, dass sie dynamische Gruppenprozesse ermöglicht, also eine große Anzahl an „Momenten“ zulässt, mit denen soziale Ziele erreicht werden können. In diesem Kontext wird Musik in der Regel als Medium aufgefasst, also als eine künstlerische Ausdrucks- und Kommunikationsform, die zugunsten sozialer Prozesse funktionalisiert wird. Es darf aber dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass es das Wesen der Musik als künstlerisches Ausdrucksphänomen ist, auf dem ihr Einsatz in sozialen Arbeitsfeldern begründet ist. Letztlich geht es auch hier stets ums Musizieren, jedoch hat sich im sozialen Bereich ein erweiterter Musikbegriff etabliert.
Musikbegriff und pädagogische Haltung
„Der Sozialen Arbeit liegt ein Musikbegriff zugrunde, der sich im Wesentlichen an dem Verständnis des jeweiligen Gegenübers, also der Adressatinnen und Adressaten orientiert. Die triviale Erkenntnis, dass nahezu alle Menschen über musikalische Erfahrungen verfügen, schließt gleichfalls ein, dass nicht alle Musikwelten auch allen Menschen gleichermaßen zugänglich sind. Musikwahrnehmung und/oder Musizieren sind sehr individuelle Vorgänge, die gleichzeitig über großes identitätsstiftendes Potential verfügen. Darin liegt die Stärke des Phänomens Musik und die Bedeutung, die Musik für den menschlichen Alltag und eine Gesellschaft haben kann. […] Der Musikbegriff wird folglich sehr weit gefasst, und jede Gestalt klanglicher Ereignisse, die für die Adressatinnen und Adressaten ästhetisch oder biografisch bedeutsam ist, kann in diesem Kontext als Musik verstanden werden […]. Der Fokus liegt in der Sozialen Arbeit zwar auf der sozialen Dimension und der persönlichen Konstruktion von Musik, dies bedeutet aber nicht, dass Wissen über Musik und eine Vertiefung ihrer Ausübung nicht möglich sind. Und obwohl Musik statt Gegenstand ein Medium der Sozialen Arbeit ist, werden beiläufig oder auch ganz gezielt – etwa in Instrumental-Workshops – durchaus musikalische Kompetenzen vermittelt.“1
So wie im Kontext sozialer Prozesse musikpädagogisch gearbeitet wird, kann Musikunterricht auch von sozialpädagogischen Umwegen profitieren. Möglicherweise führen andere Pfade sogar schneller zum Ziel, weil sie gruppendynamische Prozesse unterstützen. Solche Umwege zu erkennen und zu beschreiten, erfordert ebenfalls Momente, auf die sich zu lauern lohnt. In sozialpädagogischen Bereichen sind konkrete musikalische Angebote entwickelt worden, die für JeKits-Unterricht gewinnbringend zu adaptieren wären.
Anpassungsprozesse
Musikangebote in der Sozialen Arbeit folgen keinem Lehrplan, dadurch kann das musikalische Handeln beliebig erscheinen. Stark vereinfacht lässt sich postulieren: Instrumental- und Gesangsunterricht passt die Menschen der Musik an, Soziale Arbeit die Musik den Menschen. In der Realität sind die Grenzen fließend. Im Musikunterricht werden Musikstücke den Schülerinnen und Schülern angepasst, ein Vorgehen, das in der klassischen Instrumental- und Gesangspädagogik nicht immer selbstverständlich war, denn es widerspricht einem eng gefassten Werkbegriff.
Wurden in früheren Zeiten aus diesem Grund oftmals eigenständige, leichtere Spielstücke komponiert, nehmen mittlerweile vereinfachte Versionen von Werken – insbesondere der Popmusik – zu. Auch steht die Bedeutung von Notation nicht mehr zwingend im Zentrum des Unterrichts, was in den niedrigschwelligen Angeboten des Programms JeKits Vorteile bieten kann. Denn gerade unter solchen Rahmenbedingungen ergeben sich in den Unterrichtsstunden zunehmend lichte „Momente“, auf die es zu lauern gilt. Sie können mit Live-Arrangement oder Improvisation genutzt werden und bringen den unmittelbaren Musizierprozess in den Vordergrund. Dem Anspruch an JeKits wird somit entsprochen.
Das Lauern auf den Moment steht als Metapher für eine Haltung, die bereit ist, Impulse aus der Unterrichtsgruppe aufzunehmen und weiterzuverfolgen.
Deshalb lohnt sich der Blick auf die Elementare Musikpädagogik, wo interdisziplinäre Optionen in Gesang, Instrumentalspiel, Tanz, Bewegung und weiteren Gestaltungsmöglichkeiten Handlungsräume eröffnen. Deren Verfügbarkeit garantiert aber keineswegs, in diesem Bereich grundsätzlich offeneren Unterricht zu erleben. Auch die Elementare Musikpädagogik kann sehr verschulte Unterrichtskonzepte vorweisen. „Erlauerte Momente“ nutzen zu können, ist nicht vom Methodenkoffer abhängig, seine Ausstattung kann nur unterstützen. Es handelt sich um eine pädagogische Grundhaltung, die entsprechende Räume ermöglicht.
In der Elementaren Musikpädagogik ebenso wie im instrumentalen oder vokalen Gruppenunterricht kann in einer offenen Situation, in der alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam agieren, schnell ein besonderer Moment entstehen, etwas Dialogisches, eine kollektive Improvisation oder Ähnliches. Dies muss aber zugelassen werden und ist von der Unterrichtsgestaltung abhängig.
Bitte nicht stören – oder doch?
Findet beispielsweise sequenzieller Einzelunterricht statt, in dem einzelne Schülerinnen und Schüler nacheinander etwas vorspielen und die anderen nicht stärker involviert sind, werden Interaktionen der Nicht-Beteiligten als Störungen wahrgenommen. Aber auch in Settings, bei denen alle Gruppenmitglieder beteiligt sind, gibt es Störungen.
Die „Störung“ kann den Prozess hemmen, vielleicht aber auch zur Chance werden, indem sie einen anderen (Lern-) Weg eröffnet. Diese Chance in kürzester Zeit zu erkennen, ist die Herausforderung; die dazu erforderliche hohe Flexibilität darf dabei keinesfalls mit Beliebigkeit gleichgesetzt werden. Bei JeKits stehen Musik oder Tanz im Zentrum, die Orientierung daran sollte trotz vieler möglicher Lern-Umwege nicht aus dem Blick geraten.
In Lehrtandems kann gemeinsam auf den Moment gelauert werden. Gestaltet die Lehrkraft eines außerschulischen Kooperationspartners eine Stunde gemeinsam mit der Grundschullehrkraft, kann Arbeitsteilung helfen: Eine leitet den Gruppenprozess („unterrichtet“), die andere lauert. Und zwar nicht auf Fehlverhalten, um dann für Disziplin zu sorgen, sondern auf Gelegenheiten, um Ideen aus der Gruppe mit aufzugreifen, ohne dass das Prinzip Vollbeschäftigung verloren geht, das für Musikunterricht in der Grundschule stets ratsam erscheint – alle haben eine Aufgabe, niemand soll sich langweilen. Das Lauern innerhalb eines Tandems kann sich darauf beziehen, weitere Handlungsoptionen für Schülerinnen und Schüler zu entdecken und aufzugreifen.
Möglicherweise lauern auch die Schülerinnen und Schüler: Auf die Möglichkeit, sich in Szene zu setzen, das Geschehen zu bestimmen, auf einen Methodenwechsel, die Pause oder darauf, dass am Ende der Stunde alle noch einmal gemeinsam tanzen, ein Lied singen oder ein Stück spielen. Was auch immer: Sie werden den Moment viel spontaner und direkter ergreifen, als es die meisten Erwachsenen täten. Dies kann als Störung empfunden werden, manchmal aber auch als Angebot: ein Wegweiser für einen der Umwege, die eine Gruppe ebenfalls zum Ziel bringen können – und dann ist es kein Disziplinproblem.
Die Disziplin einer Unterrichtsgruppe zu erhalten, ist eine alltägliche Herausforderung im Gruppenunterricht. Die JeKi-Begleitforschung fordert Strategien, um sicherzustellen, dass „die hochqualifizierten Lehrenden aus der Musikschule auf ihr neues und deutlich verändertes Arbeitsfeld Grundschule vorbereitet werden können, um nicht unverschuldet in einen problematischen Novizenstatus zu geraten“.2 Die Erfahrung, dass eine JeKits-Unterrichtsgruppe deutlich anders agiert als die auf den ersten Blick vergleichbar zusammengesetzte Gruppe an der Musikschule, kann einschneidend sein und bildet eine Herausforderung, mit der ein angemessener Umgang gefunden werden muss.
Jörg Sommerfeld mutmaßt, dass eine Lehrkraft, die sich durch Disziplinlosigkeit in der Klasse bedrängt fühlt, einen Ausweg sucht, indem sie ein hohes Unterrichtstempo durch Dauerpower vorlegt. In einer solchen Unterrichtsatmosphäre wird kaum auf einen Moment gelauert werden können. Als professionelle Gegenstrategie wird empfohlen, die Rolle eines Moderators einzunehmen, die Gruppensituation zu erkennen und zu führen.3 Dieser Ansatz entspricht den grundsätzlichen Regeln zur Anleitung von Gruppen: Es muss Zeiträume geben, in denen die eigentlichen Prozesse stattfinden.
Wird im Unterricht eine gewisse Freiheit zugelassen, die das Entstehen von „Momenten“ begünstigt, dient das „Lauern auf den Moment“ als Anregung für eine Entschleunigung des Unterrichtsgeschehens.
Die Mischung macht’s
Stellen wir uns die Skala einer Balkenwaage oder den Überblendregler („Fader“) eines Mischpults vor: Auf einer Achse befindet sich am einen Ende Musik als Medium für die Gestaltung von Gruppenprozessen, am entgegengesetzten Ende Musik als Kunstform, als ästhetische Praxis. Durch Verschieben des Reglers ändert sich stufenlos die Gewichtung zwischen „Musik als Medium“ und „Musik als Kunst“. Gelingender JeKits-Unterricht basiert auf einer ausgewogenen und situationsangemessenen Verteilung zwischen den beiden Enden. Das ist nicht neu, bei diesem Balanceakt handelt es sich um ein in der Praxis durchaus übliches Vorgehen.
Der Unterricht bewegt sich vermutlich in JeKits 1 näher am Ende „Musik als Medium“, in JeKits 2 mit klarer Tendenz zur „Musik als ästhetische Praxis“. Dadurch wird dem Wesen von Musik als sozialer Kunst Rechnung getragen. Soziale Aspekte begegnen musikalischer Bildung, Musik ist Medium und Gegenstand. Das dadurch geförderte Verständnis sowohl für Musik als Kunstform als auch für Musik als Medium der Begegnung, der Selbstwirksamkeit, der spielerischen Zeitvergessenheit und vielem anderen mehr – das sind die Erfahrungen, die in den Momenten gemacht werden können, auf die es zu lauern lohnt.
Die JeKits-Stiftung will Kindern die Erfahrung des Instrumentalspiels, des Tanzens oder des Singens als ästhetisches Handeln in der Gruppe ermöglichen. Verstehen wir ästhetisches Handeln als einen zunächst einmal von Lehrplänen losgelösten Prozess, in dem sich soziale Interaktion und Begegnung mit praktischem musischen Erleben verbinden, ist ein ausgewogenes Verhältnis von Input durch Lehrende einerseits und entdeckendem, selbstbestimmtem Lernen der Kinder andererseits anzustreben. Dazu müssen die Rahmenbedingungen und pädagogischen Haltungen aufeinander abgestimmt sein. Das Lauern auf den Moment steht als Metapher für eine Haltung, die bereit ist, Impulse aus der Unterrichtsgruppe aufzunehmen und weiterzuverfolgen, wenn diese direkt oder aber auch mittelfristig das freudvolle und nachhaltige Erleben ästhetischen Handelns im Projekt JeKits ermöglichen.
1 Thomas Grosse/Hans Hermann Wickel: „Musikpädagogik in sozialen Arbeitsfeldern“, in: Michael Dartsch/Jens Knigge/Anne Niessen/Friedrich Platz/ Christine Stöger: Handbuch Musikpädagogik, Münster, i. V.
2 Ulrike Kranefeld (Hg.): Instrumentalunterricht in der Grundschule. Prozess- und Wirkungsanalysen zum Programm „Jedem Kind ein Instrument“, Berlin 2015, S. 16.
3 vgl. Jörg Sommerfeld: Instrumentalunterricht in der Grundschule. Erfolgreich lehren und gestalten, Wiesbaden 2014, S. 108.