© Olivier Moeschler

Strinning, Tina

Les Violons Dansants

Tanzend zum Erfolg: Bewegung im Raum im Instrumentalunterricht – von Anfang an

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2019 , Seite 42

Mit der Methode „Les Violons Dan­sants“ (die tanzenden Geigen) und ­einfachen Tanzschritten, basierend auf der rhythmisch-musikalischen ­Er­ziehung nach Émile Jaques-Dalcroze, führt Tina Strinning ihre Schülerinnen und Schüler in Unter­richt und Ensemble zu mehr Spiel­freude und Erfolg.

Liebe Schülerin, lieber Schüler,
lass deine Geige tanzen!
Die Schritte werden dir helfen, das Metrum zu spüren und den Takt zu zählen.
Was du auf diese Weise lernst, wirst du sicher beherrschen, weil du es mit deinem ganzen Körper erlernt hast.
Du wirst die Koordination deiner Bewegungen schulen und ganz unglaubliche Sachen machen können. Wie ein Jongleur wirst du Meister deiner Bewegungen werden, was dir natürlich für das Geigenspiel nützt, aber auch für eine gesunde körperliche Balance sorgt.
Geige zu spielen wird einfacher, denn du lernst, es ganz entspannt zu tun.
Dein Geigenspiel wird schöner werden, denn mit den Schritten lernst du zu atmen, Schwerpunkte zu finden und auf organische Weise schneller und langsamer zu werden, kurz: Du lernst, deiner Musik Schwung und Ausdruck zu verleihen. Das kann man als „Musikalität“ bezeichnen.
Du wirst den Raum um dich herum wahrnehmen lernen und wirst ihn dann nach deinen eigenen Vorstellungen und Ideen ausfüllen können. Das nennt man „Präsenz“.
Und das Beste zuletzt: Wenn du eine Choreografie erarbeitet hast und sie bei einem Vorspiel vorführst, wirst du sicherlich viel Beifall erhalten, denn die Leute werden von deiner Darbietung beeindruckt sein. Das nennt man „Erfolg“.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
die Methode „Les Violons Dansants“ ist ein sehr wirkungsvolles pädagogisches Werkzeug, das im Unterricht auf vielfältige Weise eingesetzt werden kann. Es wirkt unterstützend sowohl im rhythmisch-musikalischen Bereich als auch bei der Instrumentaltechnik selbst. In diesem Beitrag möchte ich Ihnen davon berichten, was ich meinen Schülerinnen und Schülern zeige – und möchte Sie einladen, zum besseren Verständnis mit Hilfe der im Text genannten Links die Videos anzuschauen, denn mit Worten allein kann ich Ihnen nur andeutungsweise Einblick in meine Arbeit geben.

Es war unglaublich ein­drucksvoll zu beobachten, wie stark die Arbeit mit ­Bewegung meine SchülerInnen beeinflusst hat.

Bei der Methode „Les Violons Dansants“ geht es darum, einfache Tanzschritte auszuführen, während man Geige spielt, um so der Musik eine sichtbare Form im Raum zu geben. Da ich Geigenlehrerin bin, beschreibe ich diese Methode für die Geige. Im Prinzip ist sie aber mit jedem tragbaren Instrument möglich. Ich hatte das Glück, diese Herangehensweise nach und nach mit meinen SchülerInnen zu entdecken und über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren immer weiter zu entwickeln. Die Anregung hierzu fand ich in einer Fortbildung am Institut für Rhythmik Jaques-Dalcroze in Genf.
Es war unglaublich eindrucksvoll zu beobachten, wie stark die Arbeit mit Bewegung meine SchülerInnen beeinflusst hat – und wie sich dadurch auch meine Tätigkeit als Lehrerin komplett verändert hat:
– das Lernen ging viel schneller,
– das Instrumentalspiel war auf einmal viel entspannter,
– der musikalische Ausdruck wurde flexibler,
– Freude am Tun sowie Spaß und Lachen waren allgegenwärtig,
– und in Folge konnte ich ein viel größeres Engagement der SchülerInnen beobachten.

Unabhängigkeit der Bewegungen

Émile Jaques-Dalcroze beschreibt eines der Grundprinzipien seiner Methode wie folgt: „Eines der besten Mittel, die Unabhängigkeit einzelner Bewegungen zu gewährleisten, ist ein Bewusstsein für sie zu entwickeln, indem man sie gleichzeitig mit anderen (gegensätzlichen) Bewegungen und mit Bewegungen anderer Körperteile übt, die nicht durch einen Reflex hervorgerufen wurden.“*
Das Instrumentalspiel besteht aus einzelnen Bewegungen, die voneinander unabhängig bleiben müssen. Sie dürfen sich gegenseitig nicht durch Reflexe stören. Wenn man übt, macht man sich jede einzelne Bewegung im Verhältnis zu den anderen Bewegungen bewusst und lernt, sie ohne Einfluss anderer Bewegungen auszuführen.
Als Geigerin oder Geiger konzentrieren wir uns hauptsächlich auf den oberen Teil unseres Körpers. Indem wir nun mit den unteren Gliedmaßen kontrastierende Bewegungen ausführen, wird unser Körper als Ganzes beansprucht. Indem sich die Aufmerksamkeit auf andere Schwierigkeiten richtet, lösen sich instrumentenspezifische Probleme oft wie von selbst. Es ist genau dieser Aspekt der Befreiung von einseitig betrachteten Prob­lemen, den ich im Laufe der Jahre bei meinen SchülerInnen beobachten konnte.
Im Folgenden möchte ich die Grundlagen meiner Methode praktisch beschreiben. Kurze Videos zum besseren Verständnis der beschriebenen (Tanz-)Schritte finden Sie unter: http://violons.dansants.jonglor.net/pas_de_base.html

Der Tipp-Schritt

Für Musik mit geraden Taktarten wird der Tipp-Schritt (Pas-pique) verwendet: Der rech­te Fuß macht einen Schritt nach rechts, der linke Fuß tippt auf den Boden nahe dem rechten Fuß. Es folgt ein Schritt nach links mit dem linken Fuß, der rechte Fuß tippt neben dem rechten Fuß auf den Boden. Also: rechts-tipp-links-tipp.
Von der ersten Stunde an verwenden meine SchülerInnen diesen Schritt als Grundschritt für das Metrum. Dazu klatschen sie in die Hände, spielen Pizzicato und streichen mit dem Bogen. Anfangs geschieht dies parallel zu den Füßen, dann jedoch auch doppelt so schnell oder halb so schnell wie die Schritte. Diese Übung ermöglicht unbegrenzte spielerische Möglichkeiten und führt dazu, dass alles Lernen auf einem physisch erlebten Met­rum aufbaut.
Meiner Erfahrung nach gestalten sich die ­Bewegungen viel harmonischer, wenn die Aneignung über einem Metrum stattfindet. Rhythmisch komplizierte Takte können mit Hilfe der Schritte besser verstanden werden, denn jeder Schritt hat seinen Platz im Takt. Auch alle Übungen am Instrument können von Schritten begleitet werden, um sie so in einen metrischen Zusammenhang zu stellen. Um es auf den Punkt zu bringen: Üben wird zum Spiel.

Der Krebs-Schritt

Der Krebs-Schritt wird ebenfalls für binäre Taktarten verwendet. Mit ihm kann man sich im Raum fortbewegen. Ein Schritt nach rechts, den linken Fuß neben den rechten stellen, dann wieder nach rechts mit dem rechten Fuß und so weiter. Der Krebs-Schritt kann zur Seite, geradeaus oder rückwärts gelaufen werden. Auch kann man sich um sich selbst drehen. Um die Richtung zu wechseln, benützt man ein „Tipp“ (pique) auf die letzte Zählzeit.
Alle diese Schritte lassen sich dem jeweiligen Bedarf anpassen. Zum Beispiel kann ein Walzer im Krebs-Schritt ausgeführt werden: großer Schritt – kleiner Schritt – Tipp.

Der Walzer-Schritt

Der Walzer-Schritt wird für ternäre Musik verwendet: ein großer Schritt zur Seite und zwei kleine Schritte auf der Stelle. Die Schritte des Walzers sind zeitlich gleich lang, jedoch räumlich unterschiedlich groß. Um die „Größe“ einer Bewegung innerhalb einer vor­gegebenen Zeit zu ändern, muss man seine Energie anpassen. Es handelt sich hier um die Verbindung von „Zeit, Raum und Energie“, eines der grundlegenden Konzepte von Jaques-Dalcroze. Jeder Musiker stellt diese Verbindung her, wenn er das Empfinden eines Dreiertakts durch den Atem, die Finger, das Armgewicht oder andere Mittel ausdrücken möchte. Die Walzerschritte helfen den SchülerInnen, den Schwerpunkt auf der ersten Zählzeit zu empfinden. Sie helfen ihnen auch, nicht auf der dritten Zählzeit anzuhalten, was oft geschieht, zum Beispiel bei einer Bindung von drei gleichen Noten.

Taktarten mit ­ungleichen Zählzeiten

Für 7/8-Takte oder 5/8-Takte kann man einfach die binären und ternären Schritte kombinieren: Walzer-Schritt für die langen Zählzeiten, Tipp-Schritt für die kurzen Zählzeiten. Das bedeutet, dass man zunächst die Noten in kleinere Werte unterteilt. Alle kleinen Werte erhalten Schritte, meistens sind es Achtelnoten. Dieser Zwischenschritt ist wichtig, um ein Gefühl für die Dauer der Noten zu ent­wickeln. Später reicht es dann, wenn man den Anfang jeder Zählzeit tanzt. Nun sind alle Elemente vorhanden, um eine Choreografie zu einem Musikstück zu erfinden.

Musik im Raum sichtbar machen

Unter dem Ausdruck „ein Musikstück choreo­grafieren“ verstehe ich, dass man ein Musikstück auf seinem Instrument spielt und sich dabei im Raum fortbewegt, um ein zutreffendes „Bild“ der Musik im Raum darzustellen. Das kann sich beispielsweise folgendermaßen ausdrücken:
– jede einzelne Phrase wird in eine neue Richtung gelaufen,
– Symmetrien können gezeigt werden,
– sich am selben Ort befinden, wenn das Thema wiederkommt,
– vorwärts laufen bei einem Crescendo, zurück laufen bei einem Diminuendo und viele weitere Möglichkeiten.
Folgende positive Auswirkungen konnte ich bei meinen SchülerInnen durch die Anwendung der oben beschriebenen Methode beobachten:
– Ausbildung eines Gespürs für die musikalischen Vier- und Acht-Takt-Perioden,
– größere rhythmische Sicherheit,
– Verständnis für den Aufbau des Stücks,
– die Bühnenpräsenz wird gestärkt,
– Erleichtern des Auswendiglernens: Wenn man im Raum herumgeht, wird Auswendigspielen schnell zur Notwendigkeit und man muss sich vom Notenständer losreißen. Dafür helfen die räumlichen Strukturen, die musikalische Form zu integrieren. Die Choreografie ist Garantin der Struktur, und das Musikstück geht weiter, egal was passiert. Tatsächlich habe ich bei meinen SchülerInnen nie eine Gedächtnislücke beobachtet, wenn sie ein choreografiertes Stück vorgespielt haben!
– Bewusstwerden aller Einzelheiten: Eine Phrase wird mit bestimmten Schritten auf genauen räumlichen Formen geübt. Hier sind alle Sinne gefordert, wenn man versucht, genau zu beobachten, was alles gleichzeitig passiert. Diese Beobachtung könnte beispielsweise so aussehen: Wenn ich den zweiten Finger aufsetze, stehe ich auf dem linken Fuß, mit dem Bogen spiele ich einen Aufstrich, ich sehe das Dach des Nachbarhauses durch das Fenster und höre außerdem ein C erklingen. Die Musik wird also auf ganzheitliche Weise verinnerlicht.
– Offensichtlich wurde auch, dass es den Kindern viel Freude macht, ihre eigene Choreografie zu erfinden. Sie lieben es, ihre Ideen einzubringen und bei einem Vorspiel vorzuführen.

Das Ensemble „Les Ministrings“

Dieses Ensemble hat wesentlich zur Entwicklung der „Violons Dansants“ beigetragen. Ich habe das Ensemble 2002 gegründet und die Kinder von Anfang an Bewegungen ausführen lassen. Der Erfolg stellte sich sofort ein, denn ich konnte beobachten, dass Kinder jeden Alters mit Begeisterung zusammen tanzen. Der große Erfolg der choreografierten Darbietungen beim Publikum hat auch die Schüchternsten unter ihnen mitgerissen.

Pro Jahr gibt dieses Ensemble 25 bis 30 Konzerte in der Schweiz und in ganz Europa. Bei diesen Aufführungen sind etwa dreißig Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren alleine ohne Dirigent und ohne Noten auf der Bühne. Sie spielen auswendig Musik verschiedener Stilrichtungen wie Folk Music, Swing und anderes, also traditionelle Musik aus aller Welt, die sie selbst gerne als „Musique du voyage“ (Musik des Reisens oder des Unterwegs-Seins) bezeichnen.
Die Arbeit mit Bewegung im Raum ist ohne Zweifel eine wesentliche Komponente, die zur beeindruckenden Bühnenpräsenz und begeisternden Ausstrahlung der „Ministrings“ beiträgt. Für mehr Informationen über die „Ministrings“ lade ich Sie ein, ihre Internet-Seite zu besuchen: www.ministrings.ch. Sie finden dort und auf YouTube viele Videos ihrer Auftritte.

Abschließende ­Antworten

Zum Schluss möchte ich auf Fragen antworten, die mir oft gestellt worden sind – und die Ihnen vielleicht auch beim Lesen dieses Artikels gekommen sind.
– Ja, da raucht der Kopf ganz gewaltig! Aber welche Freude, wenn es dann schließlich gelingt.
– Ja, zu Beginn ist es eine zusätzliche Arbeit. Doch welche Lehrkraft hätte nicht schon davon geträumt, dass ihre SchülerInnen mehr übten?
– Ja, es lohnt sich, sich für diese Übungen Zeit zu nehmen, auch wenn die Stunde ohnehin schon zu kurz ist. Das häusliche tägliche Üben unterstützt die Bemühungen und führt bei regelmäßiger Übung schneller zum Ziel.
– Nein, weder die SchülerInnen noch deren Eltern finden das merkwürdig. Für sie gehört die Bewegung im Raum von Anfang an zum Erlernen des Geigenspiels dazu.
– Ja, alle SchülerInnen! Alle Schülerinnen und Schüler profitieren je nach ihren Möglichkeiten von der Ganzheitlichkeit dieser Methode und vom Lernen über einem physisch erlebten Metrum.
– Nein, in keinem einzigen Fall habe ich beobachtet, dass der Tanz das Geigenspiel dauerhaft negativ beeinflusst hätte, ganz im Gegenteil.
Und eine Bemerkung zu guter Letzt, damit Sie heute schon beginnen können und morgen weitermachen: Die Lehrperson muss nicht alles ausführen können, was sie von ihren SchülerInnen verlangt… Vor allen Dingen: Haben Sie Spaß!

Übersetzung aus dem Französischen: Regine Bubeck.

* Émile Jaques-Dalcroze: „Notes sur notre double vie“, in: La musique et nous, édition Perret-Gentil, Genève 1945, S. 112 (Übersetzung: Fränzi Strinning).

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2019.