Hertel, Andreas
Let’s Play Jazz
Einführung ins Jazzspiel für Klavier. Spielstücke in verschiedenen Jazz-Stilen und Improvisationsanleitungen, mit CD
So unterschiedlich im methodischen Vorgehen, so ähnlich in der Zielsetzung: Andreas Hertel und Stefan Veit wollen KlavierschülerInnen der (oberen) Mittelstufe in den Stand setzen, auf Grundlage vorgelegten Materials stilsicher zu improvisieren. Veit beschränkt sich auf eine Gattung, die titelgebend ist. Honky Tonk ist über einen Stones-Song ins allgemeine Bewusstsein gelangt, im eigentlichen Sinne handelt es sich um Klaviermusik, die in weißen Barrelhouses bzw. eben Honky Tonks in den Südstaaten der USA gespielt wurde. Markenzeichen des Klavierklangs sind Verstimmung und Scheppern. In den beigefügten Tonaufnahmen werden derart präparierte Klanggewänder geboten, manche von ihnen wirken durch ihre digitale Bearbeitung etwas statisch. Honky Tonk Piano beinhaltet mehrere Stile: Country, Ragtime, Stride und im Schwerpunkt Blues und Boogie.
Hertel liefert in Let’s Play Jazz 18 Beispiele aus zehn verschiedenen Stilen, vom Blues über Swing bis zu Bossa und Soul-Jazz. Er schreibt stilistisch typische und geschmackvolle Stilkopien, die sich sowohl auf Kompositionsweisen als auch auf Spieltechniken einiger berühmter Jazzpianisten beziehen, so Oscar Peterson, Thelonious Monk oder McCoy Tyner. Die Klaviersätze sind reduziert und leichter spielbar als Transkriptionen vieler Originale, dabei erleidet das Stilistische jedoch keine Verluste.
Stefan Veits Band enthält neben den Notenbeispielen einen umfangreichen Lehrgang. Beginnend mit Grundlagen (Skalen, Intervalle etc.) kommentiert er jedes Stück recht ausführlich bezüglich der enthaltenen Materialien (Akkordaufbau, Akkordsatz, Skalen usw.). Dabei wird die in den USA übliche Begrifflichkeit eingeführt, z. B. „double lead triads“ für Akkordbildungen mit Verdopplung des Melodietons. Die Erläuterungen sind verständlich formuliert, häufig durch zusätzliche Notenbeispiele veranschaulicht.
Andreas Hertel erklärt zum musikalischen Material fast nichts, er gibt zu jedem Stück wenige Hinweise zu Skalen, Lagen, melodischen Besonderheiten, zuweilen licks, hier auch mit kurzen Notenbeispielen. Kenntnisse der Harmonielehre muss sich der Klavierschüler oder die -schülerin selbst aneignen; der Autor empfiehlt, sich in die Obhut eines Lehrers zu begeben.
Veits neun Kapitel fußen auf je einem Beispiel, das zuweilen in verschiedenen Fassungen vorgestellt wird. Neben den Transkriptionen steht je ein Kapitel „Practice and Play“, das Anleitungen zur Improvisation liefert; hierbei wird sehr genau auf Begrenzungen und Progression geachtet. Ferner stellt Veit Aufgaben zum Komponieren im Sinne von verlangsamter Improvisation.
Hertel hingegen kommt pro Kommentar mit einer Seite aus, neben einführenden Worten zum Stück listet er unter „Lead Sheets“ ähnlich zu spielende Standard-Stücke auf, gefolgt von knappen Hinweisen zur Improvisation.
Beide Autoren beantworten die Gretchenfrage für die Abfassung einer Jazz-Schule – „Wie viel soll ich erklären?“ – nahezu entgegengesetzt. Das Problem ist, dass es kein verbindliches Standardwerk über die Grundlagen des Jazz gibt, auf das verwiesen werden könnte. Für die Lernenden mögen beide Wege nutzbringend sein, es kommt auf die Vorkenntnisse und Vorlieben an, auch auf das jeweilige Angebot an Jazzstilen. Es besteht immer die Gefahr, dass manche solche Schulen eingeschränkt nutzen, nämlich nur die gegebenen Beispiele durchspielen bzw. üben. Dies entspricht explizit nicht der Intention beider Autoren.
Ungewöhnlich bei Veit ist die Annahme, Blues-Skalen bei der Transposition auf einer anderen Stufe beginnen zu lassen, z. B. den Grundton als 6. Stufe aufzufassen. Dies mag zwar technisch vorteilhaft sein, könnte aber das Grundtongefühl beeinträchtigen. Die Dur-Terz im Blues erscheint sehr spät in seiner Schule. Typisch sind gleichbleibende Strukturen in der rechten Hand, die mehrmals thematisiert werden.
Sowohl Veit als auch Hertel zeichnet eine Begeisterung für ihre Gegenstände aus, die sich bei intensiver Anwendung sicher überträgt.
Christian Kuntze-Krakau