Hiby, Stefan

Lob des Unfertigen

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 39

Ein Lob des Unfertigen – wirklich? Ist nicht das „Fertige“ zu loben, das „Unfertige“ allenfalls zu ertragen? Wie lässt es sich begründen, inmitten von Wissenschaft, Qualifikationsstreben und zielgerichtetem Lernwillen gerade den Wert des Unfertigen zu betonen? Das Fertige lädt zum Ausruhen ein. Aus dem Unfertigen kann noch etwas werden. Und darum soll es gehen!
Ein musikpädagogischer Alltag ist reich an Unfertigem als unvermeidbarem Bestandteil des Lernprozesses. Der naheliegendste Reflex geht in Richtung Flucht: so schnell wie möglich heraus aus dem Wust des Unfertigen, hin zu irgendeinem „Ergebnis“, das sich als „fertiggestellt“ vorweisen lässt. Doch ist nicht die Phase des Unfertigen der einzige und unverzichtbare Freiraum für korrigierende Weichenstellung und Vorankommen? Das Unfertige fordert, scheinbar sicheres Terrain zu verlassen und neue Kreativität zu mobilisieren. Jetzt sind Mut und Ideenreichtum für zündende neue Lernimpulse gefragt.
Unser gesamtes Bildungssystem mit seinen Prüfungs- und Wettbewerbsregularien wäre im Hinblick auf eine Prozess- statt Ergebnisorientierung zu überdenken. „Prozess“ bedeutet: etwas ist noch unfertig, „Ergebnis“ dagegen: etwas ist fertig. Hier lohnt ein Blick auf die Veränderungen der Lehrpläne des VdM. Lehrpläne sind ja nie ein für alle Mal „fertig“, müssen immer wieder überarbeitet werden. Und es wird deutlich, wie viel Mühe sich die Verfasser der Ins­trumentallehrpläne geben, um Entwicklung in aller Differenziertheit und Vielgestaltigkeit darzustellen. Natürlich sind auch Zielvorstellungen Teil eines Lehrplans. Es wäre töricht, einem Lehrplan vorzuhalten, dass er Wege mit Zielausrichtung beschreibt.
Lehrpläne formulieren theoretische Ziele, die auch ganz fern liegen dürfen. In der Praxis heißt es jedoch, miteinander das Nah­erreichbare zu schätzen. Theorie und Praxis: Die Wirklichkeit macht einem theoretischen Plan so gut wie immer einen Strich durch die Rechnung. Die Qualität des Unterrichts lässt sich nicht nach theoretischer Lehrplanerfüllung ermessen, sondern nach Geschicklichkeit und Menschlichkeit im Umgang mit Lehrplanhindernissen. Und wie diese hundertfältig aussehen, weiß jede Ins­trumental- und Gesangslehrkraft.
Angesichts subjektiv empfundener oder auch objektiv gegebener wachsender Anforderungen im musikpädagogischen Sektor ist die Tendenz zunehmender Spezialisierung zu beobachten. Das ist eine nachvollziehbare Konsequenz, aber sie ist ergebnis-, nicht prozessorientiert. Hinzu kommt die wenig hilfreiche Trennung von Musikhochschul-Studiengängen mit künstlerischem oder pädagogischem Qualifikationsziel, die keinem prozessorientierten Denken entspricht. Die Vorbereitung eines musikalischen Gebildes mit einer Kinderschar ist eine zutiefst künstlerische Aufgabe, steht auf gleicher Wertstufe wie die Vorbereitung eines Konzertprogramms, dessen Farbigkeit oft gerade durch Vielseitigkeit und pädagogisches Geschick der Interpreten gewährleistet ist. Buntheit und Lebendigkeit im Musikschulalltag gründet sich sowieso mehr auf Flexibilität und ganz andere Fähigkeiten der Lehrkräfte als auf ihren Spezialisierungsgrad.
Nebenbei bemerkt: Die großen Meister der Musikgeschichte waren nach heutigen Maßstäben gemessen innerhalb des Musikmetiers kein bisschen „spezialisiert“, vielmehr waren sie bewundernswerte Allrounder. Und wenn sich Spezialisierungen ergeben haben, dann erst im späteren Lebensalter, keineswegs in Phasen jugendlicher Entwicklung. Mag sein, dass das mit größerer Toleranz gegenüber „Unfertigem“ und geringerer Fixierung auf scheinbar „Fertiges“ zu tun hat. Wunderkindphänomene waren kein Ergebnis früher Spezialisierung, sondern besonders prägnanter Anforderungskombinationen. Vielleicht gibt es ans Wunderbare grenzende musikalische Entwicklung nur gepaart mit der Fähigkeit, „Fünfe grad sein“ zu lassen?
Das Unfertige hat seinen Platz irgendwo zwischen dem „Gar nichts“ und dem „Alles perfekt“. Und weil Letzteres als Anspruch sozusagen das Feld beherrscht, hat das Unfertige es so schwer, in seinem künstlerischen und sozialen Wert erkannt zu werden. Wie wäre es, wenn wir dem Unfertigen viel freundlicher begegnen und es liebevoll zärtlich hätscheln, weil es uns eine andere Denkweise eröffnet und die nötige Zeit vermittelt, die wir brauchen, um zu erkennen, dass alles „Fertige“ (jedenfalls im musikpädagogischen Bereich) eine Illusion ist?! Erasmus von Rotterdam hat sein Lob der Torheit sicherlich auch geschrieben, um gemeinsam mit Thomas Morus Anfang des 16. Jahrhunderts bei seinem Besuch in London vergnügliche Abende verbringen zu können. Die als Torheit verkleidete Klugheit wird erst beim zweiten Hinschauen erkennbar.
Im Unfertigen sind Juwelen und Schätze versteckt, die der Perfektionist ziemlich blind übersieht. Also: Schatzsuche in den Anfangsgründen der Instrumental- und Gesangspädagogik – wir sind damit nie fertig!

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