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Görner, Rüdiger

Mehrstimmige Kanonisierungen

Noten zum musikalischen Gedächtnis

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 06

Im Gedächtnis bildet sich Orientie­rungswissen. Seine musikalische Ausprägung begünstigt die auditive Seite dieses Wissens. Seine Grundie­rung und Schärfung erfährt es durch die kritisch-produktive Auseinander­setzung mit den Vorgaben des Kanons. Essenzieller Teil dieser Arbeit mit dem Kanon ist seine partielle Überwindung und Wertschätzung als Teil unserer kulturellen Tradition.

Woran erinnern wir uns, wenn wir an Musik denken, eine Melodie als solche oder eine Begebenheit, bei der wir sie zuerst hörten? Verformt die Musik sich, wenn wir uns an sie erinnern? Oder hören wir sie in unserem Inneren als etwas Authentisches? Woran wir uns bei Musik erinnern, hängt fraglos von unserer Disposition ab und davon, ob wir nur Hörende oder Aufführende sind, ob es sich an ein Repertoire zu erinnern gilt, das sich auswendig vortragen lässt, oder ob wir uns als sogenannte Musikliebhaber an eine Sequenz (wieder und wieder) erinnern, die für uns bedeutsam war und ist. Die Intensität dieser Art des Erinnerns hängt „klangscheinlich“ (statt augenscheinlich – wie wir ohnedies zu viele optisch konnotierte Adjektive und Adverbien haben!) von unserer jeweiligen Musikalität ab.
Verliert sich aber das im (musikalischen) Erinnern Spürbare des Gedächtnisses in einer Kultur, tendiert sie zur Barbarei. Entsprechend gehört das Tilgen von Erinnerung zum ersten, was totalitäre Systeme versuchen oder erzwingen. Sie präsentieren sich mit Vorliebe als das unbedingt und radikal „Neue“, das sie als voraussetzungslos propagieren. Die Ent- und Rekanonisierung von Kulturwerten bestimmen ihre Vorgehensweise.
Was begünstigt ein musikalisches Gedächtnis? Gehen wir vom Extremfall aus: Berichten von Überlebenden der Shoa können wir entnehmen, dass die Erinnerung an Melodien Mozarts ihnen geholfen hat, das absolute Grauen zu ertragen. Überliefert ist auch das Wort des englischen Romantikers John Keats, dass die Erinnerung an eine Melodie Mozarts ihn eine Nacht lang wachgehalten hat – freilich zu einem Zeitpunkt, als Mozart noch nicht „kanonisiert“ war.
Der Kanon ist ein Phänomen bildungsbürgerlicher Klassifizierung von Kulturwerten und Lehrinhalten. Er beginnt sich abzuzeichnen in einer verstärkten anthologisierenden Tätigkeit im späten 18. Jahrhundert – etwa durch Johann Gottfried Herder (Stimmen der Völker in Liedern), Achim von Arnim und Clemens Brentano (Des Knaben Wunderhorn), in den Lyrical Ballads von Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth sowie der Märchensammlung der Brüder Grimm. Das an „Volksgut“ Überliefernswerte bildete die Grundlage für das, woraus später Kanonisierungen wurden. In der Musik setzt dieses Verfahren erheblich früher ein und zwar mit Sammlungen, die exemplarische Komposi­tionsweisen boten, geht doch das Kanonische vom Exemplarischen aus. So geschehen in Georg Philipp Telemanns 25 „Lectionen“ Der getreue Music-Meister (1728/29).

Kanon als Kulturwert

Kanonisierungen erfüllen eine bildungspolitische oder zumindest kulturwertige Funktion, die freilich nie unpolitisch ist; denn durch den (Werte-)Kanon bildet sich eine wie auch immer traditionsorientierte ästhetische Gemeinschaft. Im Kanon manifestiert sich – je nach Voraussetzungen – ein Zusammenstimmen von Werken und Werten. Besonders die Musik arbeitet mit Zeitwerten, die sie aufhebt und gleichzeitig reaktiviert. Der Beitrag historisierender Klangformen, ein kompositorisches Schaffen „im alten Stil“, kann dabei eine eigenständige Wirkung zeitigen – von Richard Strauss’ Rosenkavalier bis Maurice Ravel und Ottorino Respighi. Doch liegt es in der Natur der Geschichte der Künste, dass auch emphatische Anti-Kanoniker kanonisiert werden – von Igor Strawinsky bis Edgard Varèse, von Dada bis zur PopArt.
Zum einen steht der Kanon über den Moden und Trends; er scheint Orientierung und Verlässlichkeit zu bieten jenseits aller Schwankungen in Geschmack und Wertung. Im Unabsehbaren der künstlerischen Werkfülle und -vielfalt bedeutet die Kanonisierung zumindest eines: Struktur. Die Frage ist jedoch: Wer kanonisiert was und wann und warum? Kritiker? Pädagogen? Medien, Konzerthausdirektionen, Museen, Verlage? Die „Öffentlichkeit“ kanonisiert nicht im eigentlichen Sinne; denn der Publikumsgeschmack fluktuiert, artikuliert aber Erwartungen, goutiert vorrangig das, was jeweils als populär gelten kann. Mit diesem Geschmack ist wie mit den „Geschickes Mächten“ kein „ew’ger Bund zu flechten“, um es mit Schillers Lied von der Glocke zu sagen, einst ein seinerseits kanonisiertes Gedicht, das es aus- und inwendig zu lernen galt. Und warum? Um das zu internalisieren, was man einen in diesem Fall handwerklich-künstlerischen Entstehungsprozess nennt, weil das Gedicht diesen auf exemplarische Weise darstellt.

Wer kanonisiert was und wann und warum? Kritiker? Pädagogen? Medien, ­Konzerthausdirektionen, Museen, Verlage?

Der Zeitgeschmack gehört zum Zeitgeist, der sich zumeist antikanonisch verhält, es sei denn, man befindet sich in einer Neo-Phase, wo sich ein einst Gewesenes in den Künsten neu belebt und mit der jeweiligen Gegenwart fusioniert, sodass eine frühere Stil-, Darstellungs- oder Aussageform wieder dominant sein kann. Doch ein „Retro“ macht noch keinen Kanon, und die Wiederkehr des Nierentischs oder der Plisséefalte pflegt von kurzer Dauer zu sein. Mit der Kanonbildung verhält es sich profunder. Buchstäblich steht dabei mehr auf dem Spiel, nämlich Vertiefung, Exemplarisierung, das Bilden von Anspielungsmöglichkeiten und Mustern. Die Kanones bestehen aus Anhaltspunkten für künftiges Schaffen; Identifikationen und Abgrenzungen vollziehen sich mit Bezug auf einen Kanon, gleich auf welchem künstlerischen Gebiet.

Kanonische ­Voraussetzungen

Ursprünglich war der Kanon, als Verzeichnis der Heiligen verstanden, Kernstück der liturgischen Messe. Vielheit ist demnach sein Wesensmerkmal, aber auch Herausgehobenheit. Als musikalisches Einüben ins Gemeinschaftliche gewann dabei der Kanon eine ­religiös-soziale Funktion mit entschieden künstlerischer Note. Durch Experimente oder zumindest künstlerische Wagnisse fällt der Kanon als Gemeinschaftsgesang jedoch nicht auf. Er ist das Konsonante schlechthin, das Sich-Einstimmen in versetzte Einsätze, ein Loblied auf die Konsistenz der Intervalle, eine Feier modifizierter Wiederholungen, bis sich alle Kanonisten in einer Schlusskadenz wiederfinden: „Oh, wie wohl ist mir am Abend…“ Mozarts sechsstimmiger Kanon auf das Götz-von-Berlichingen-Zitat aus dem Jahr 1782 (KV 382d) wurde dagegen nicht kanonisiert, sondern von späteren Herausgebern bereinigt zu: „Lasst uns froh sein! / Murren ist vergebens! / Ist das wahre Kreuz des Lebens. / Drum lasst uns froh und fröhlich sein!“ Wahre Künstler sind „unsichere Kanonisten“, Abweichler, die mit Vorliebe aus der Notenreihe tanzen, eigensinnige Wesen, die gerade im Abweichen von der Norm den Sinn des Eigenen erkennen, um Hermann Hesses einschlägiges Wort von 1919 zu paraphrasieren.1
Aber Kanonisieren bedeutet nun einmal: ästhetisch normieren, festlegen, was verdient, sich in unserem Gedächtnis einzunisten. Was aber heißt hier „verdienen“, was „Gedächtnis“, was „einnisten“? Nisten hat mit Ausbrüten von Gelegtem zu tun, also mit neuem Werden; und Gedächtnis mit Erinnert-Gedachtem; verdienen meint (hier): etwas hat sich ein Verdienst erworben durch Besonderheit. Nun hat weder Goethe nur Meisterwerke gedichtet, noch Mozart nur solche komponiert oder van Gogh solche gemalt – ebenso wenig wie Giovanni Paisiello oder Ignaz Moscheles nur Durchschnittliches zu Papier gebracht haben. Vergessen wir nicht: Max Dauthendey wurde um 1910 als „neuer Goethe“ gehandelt und Hans Carossas Texte waren in jedem Lesebuch vertreten – Namen, die man heute meist vergeblich sucht.
Übrigens: Nichts kanonisiert mehr als ein Lesebuch, in früheren Zeiten das Kirchengesangbuch. Auch wenn wir seltener von kanonisierten Gemälden sprechen (irgendwie fügt sich dieses Wort weniger für Bilder, gar für Fotografien: verführerisch, was die Austauschbarkeit von Bildern angeht, war die Erfindung des Wechselrahmens!), die großen Galerien und Museen sind Kanonisierungs­institute in den Bildenden Künsten ebenso wie die Akademien für Literatur und Musik; denn die „schönen Künste“ sind und bleiben wertungsabhängig, ja sie werten sich gegenseitig auf und ab. Galerien paradieren ihre Kanonisierungen geradezu; als Besucher läuft man sie ab und doch werden sich höchstens ein halbes Dutzend von ihnen sich im Betrachter einsenken, der diese nach einem ­Galeriebesuch in seinem Inneren mitnimmt. (Am tiefsten im Nicht-Bewusstsein vergraben sind dann jene Bilder, die man auf seinem Smartphone abgelichtet hat…)

Wahre Künstler sind eigen­sinnige Wesen, die gerade im Abweichen von der Norm den Sinn des Eigenen erkennen.

Als Wissensform geht das Kanonische auf die Scholastik zurück als einem geistigen Ordnungssystem; denn jede Zeit kannte ihre jeweilige Wissensflut, die einzudämmen geboten schien. In der nahezu ätherischen Klangwelt einer Hildegard von Bingen wurde dieses Kanonische Teil ihrer ordo musicalis und damit sinnlich-sakrales Ereignis. Noch im Beginn der Ersten Duineser Elegie Rilkes lässt sich ein spätes Echo dieser Welt wahrnehmen: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ Aus diesem religiös-ästhetisch geprägten kanonischen Bewusstsein entwickelte sich in einem zunehmend rationalistisch orientierten Begründungszusammenhang der frühen Neuzeit das, was sich als kanonisches Wissen bezeichnen lässt. Es lieferte, noch verstärkt durch die Aufklärung, Anhaltspunkte, Referenzen, um zu dem vorzudringen, was Kant die „Urteilskraft“ nennen sollte; man könnte es auch als das wertende Vermögen des Menschen bezeichnen.
Der allzu menschliche Wille zum Werten, aber dann auch zum Umwerten im Sinne Nietzsches und damit Umbewerten von scheinbar etabliertem Wissen brachte die Verankerung im Kanonischen ins Wanken.

1 Hesse, Hermann: „Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen unbedingt Heiligen: dem Gesetz in sich selbst, dem Sinn des Eigenen.“ In: ders.: Eigensinn (1919).

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