Richter, Christoph

Meister-Unterricht

Prinzipien der ­Meisterlehre früher und heute

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2012 , Seite 06

Einen Meister oder eine Meisterin zeichnet zweierlei aus: Er oder sie be­herrscht – als Fachmann, Künstle­rin, Gelehrter – in herausragender Weise sein oder ihr Metier (er ist Meister seines Fachs, sagt man). Und er oder sie ist gleichzeitig eine überragend erfolgreiche und verantwortungsvolle Lehrperson.

Dass die fachlichen und pädagogischen Fähigkeiten eines Meisters größer sind als die anderer, besagt das Ursprungswort Magis­ter, eine Komparativform, welche mit den lateinischen Wörtern magis und major zusammenhängt und die sich in den indogermanischen Sprachen als Meister, master, mister, maestro als Bezeichnung für größte Qualität und für hohes Ansehen herausgebildet hat.
Die Tradition, nach welcher als Lehrer stets die besten Fachleute herangezogen werden, gilt seit den frühesten Zeiten menschlicher Kultur für jene, die ihren Beruf gleichzeitig mit dem Lehren ausüben, für alle Arten der Ausbildung. Die Doppelbestimmung des Meisters, die bis in Frühzeiten der Antike und asiatischer Kulturen zurückzuverfolgen ist,1 lässt sich anschaulich am Bild des Meisters oder Musikdirektors der Stadtpfeifereien verdeutlichen.2 Stadtpfeifereien entstanden als musikalische Handwerks- und Ausbildungsbetriebe im Rahmen der zunehmenden Sesshaftigkeit von Musikern in festen kommunalen Anstellungsverhältnissen.
Solche Handwerksbetriebe entwickelten sich seit dem 13. Jahrhundert. Die Würde und die Bürde eines Stadtpfeifers wurden in den einzelnen Kommunen angesehenen und erfolgreichen Musikern verliehen. In Berufungsverhandlungen wurden einerseits die musika­lischen Aufgaben bis ins Einzelne festgelegt und andererseits – wie noch heute – die persönlichen und betrieblichen Zuwendungen ausgehandelt: „der“ Gehalt, die Betriebs­gebäude, ein langer Katalog von Zuwendungen – vom Notengeld bis zu Naturalien.
Ein Stadtpfeifer hatte zwei Aufgabenbereiche zu besorgen: Außer der Nachwuchsausbildung musste er für die anfallenden Musiken sorgen; zu ihnen gehörten Turmblasen, Musik bei Hochzeiten, Beerdigungen, allerlei Festen und anderen öffentlichen oder privaten Anlässen. Für sie war auch die Art der Musik vertraglich festgelegt – nach Besetzung, Charakter, Umfang, Qualität. Für diese Aufgaben standen ihm die Gehilfen und Lehrlinge zu Verfügung, die er in seinem Betrieb einstellte. In fachlich-künstlerischer Hinsicht umfasste die Meisterlehre den Instrumentalunterricht und die künstlerische Praxis, die Anleitung zum Musizieren mit anderen, den Ernstfall der musikalischen Auftritte, eine für die Spielpraxis notwendige Musiklehre, Litera­turkenntnis, Aufführungspraxis, Geschmacksbildung und nicht zuletzt auch eine allgemeine lebenspraktische Erziehung. Dies alles wurde in einer Art Gesamtunterweisung nach dem Vorbildprinzip, beim Proben und im Ernstfall der Aufführungen gelehrt und gelernt, nicht in speziellen Fächern und nicht nach irgendwelchen aufbauenden didaktischen Prinzipien.
Die Pädagogik nach Art der Meisterlehre in der Stadtpfeiferei war also von zwei Prinzipien bestimmt:
– Als das eine Lernprinzip galt das Lernen durch Nachmachen, Abgucken, Mitmachen, durch praktische Musiziervorbereitung und durch Lernen im Ernstfall.
– Als das andere Lehr- und Lernprinzip – es ist jenes, das die Meisterlehre bis heute (mit) prägt – galt die Orientierung am Vorbild des Meisters, an seinen spieltechnischen und künstlerischen Fähigkeiten, an seinem Musikgeschmack, an seiner Art des Übens. Es umfasste auch die praktische und ethische Berufseinstellung, den Umgang mit den Werken, die allgemeine Lebensführung und Lebenseinstellung. Da die Lehrlinge im Hause des Meisters lebten, kann man sich diese Art der Ausbildung als eine harte und konsequente Lehrzeit vorstellen.
Die spezielle Didaktik der Meisterlehre in den Stadtpfeifereien mit ihrer Idee und Praxis eines Handwerksbetriebs und als eine Verbindung von Ausbildungs- und Produk­tionsstätte wurde allmählich abgelöst durch jene, die sich an den Konservatorien ent­wickelte, der Vorläufer und Vorbilder der heu­tigen Musikhochschulen. Die besondere Struktur und Ausrichtung der Konversato­riumsausbildung zeigt sich
– in der Trennung von Ausbildung und Berufs­praxis,
– in der zunehmende Spezialisierung der Aus­bildung in Einzelfächer und in aufbauenden Lehrplänen,
– in der Entstehung von Lehrerkollegien und Unterrichtsklassen, die mehr oder weniger gegenseitig abgeschottet leben oder aber zusammenarbeiten,
– schließlich und allmählich auch in der tendenziellen Trennung des künstlerischen Meis­terberufs in künstlerische und pädagogische Tätigkeiten.
Die gewichtigste Veränderung künstlerischer Ausbildung entwickelte sich in einer veränderten Vorstellung von musikalischer und allgemeiner Bildung. Die handwerklich und berufspraktisch ausgerichtete musikalische Bildung der Stadtpfeifereien wurde erweitert und abgelöst durch ein neues Ideal künst­lerischer Tätigkeit. Über das hohe handwerk­liche Niveau hinaus entstanden das Bewusstsein und der Wille zu einer persön­lichen und individuellen Gestaltung und Ausdeutung der Musik. Waren schon seit der ausgehenden Barockzeit der Ausdruck und die Darstellung der Affekte immer bedeutender geworden, so entwickelte sich nun das Musizieren zum Bedürfnis individueller Interpretation und der Musiker zu einer unverwechselbaren und selbstbewussten Künstlerpersönlichkeit. Der Meisterlehre wuchsen neue Aufgaben zu: die Ausbildung zu solchen individuellen Künstlerpersönlichkeiten, freilich zumeist immer noch als Abbild und nach dem Vorbild des Meisters selbst.
In allen Organisationsformen der Künstlerausbildung hat das Prinzip der Meisterlehre bis heute zentrale Bedeutung. Es wird flankiert von einer Reihe so genannter Neben­fächer, die ich lieber Grundlagenfächer nenne und die für die musikalische und allgemeine Bildung einstehen sollen. Leider werden sie von vielen Lehrkräften und Studierenden zumeist als weniger wichtig oder gar als störend eingeschätzt.
Das Faktum, dass der Bildungsanspruch des Musikers tendenziell verkümmert, hat freilich auch andere Gründe. Wäre er ein integ­rierter und stetig gepflegter Bestandteil der Meisterlehre selbst, das heißt, würden die Meister ihn nicht nur energischer fordern, sondern ihn selbst durchs eigene Vorbild energischer fördern, käme dies nicht nur der künstlerischen Interpretation und der wünschenswerten Bildungshaltung zugute. Die Beschäftigung mit den (leider) vereinzelten Grundlagenfächern würde dadurch für die Studierenden selbstverständlicher und besser einsehbar.

Didaktische Beurtei­lung der Meisterlehre

Das Prinzip der Meisterlehre wird heute – je nach pädagogischer Einschätzung und nach erlebter Erfahrung – gegensätzlich beurteilt, bald als eher positiv und unverzichtbar, bald als eher kritisch und pädagogisch überholt. Ich versuche im Folgenden, einige Hintergründe dieser Einschätzungen darzustellen.

1 Christoph Richter: Artikel „Musikausbildung“, in: ­Musik in Geschichte und Gegenwart (neu), Bd. 6, Kassel 1997, Sp. 1018 ff.; siehe dort die einschlägige Literatur.
2 Heinrich W. Schwab: Artikel „Stadtpfeifer“, in: Musik in Geschichte und Gegenwart (alt), Bd. 16, Kassel 1979, Sp. 1731-1743.

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