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Hölscher, Florian

Meisterlehre – Täterschutz?

Überlegungen zum Zusammenhang zwi­schen Lehrverständnissen und Übergriffen

Rubrik: Hochschule
erschienen in: üben & musizieren 1/2023 , Seite 54

Viele Musikhochschulen haben (endlich) ihre Aktivitäten auf den Feldern Anti­diskriminierung und Prävention von Übergriffen verstärkt. Um aber zu verstehen, welche Voraussetzungen die vielen Formen von Fehlverhalten begünstigen, lohnt ein Blick nicht nur auf die Machtstrukturen, die Anstel­lungsverhältnisse und die Prüfungs­ordnungen der Hochschulen, sondern auch auf das Grundverständnis von Lehre mit ihren impliziten Hierar­chien, Abhängigkeiten und ihrer Kommunikation: Gibt es eine Päda­gogik, die Übergriffe und Machtmiss­brauch eher begünstigt als andere?1

Die Diskussion darüber, auf welchen Werten eine gute Lehre an Musikhochschulen gründet, berührt immer sowohl Überlegungen zum Hierarchiegefälle als auch zur Verteilung von Verantwortung zwischen Lehrenden und Studierenden im Lehr- und Lernprozess: Die Plädoyers changieren dabei zwischen instruk­tivistischem, direktivem Unterrichtsstil im Sinne einer Erzeugungsdidaktik und einem konstruktivistischen, nicht-direktiven Unterrichtsstil gemäß einer Ermöglichungsdidaktik.2 Die Diskussion erfährt eine möglicherweise ergiebige Färbung, wenn verschiedene Modelle der pädagogischen Führung daraufhin befragt werden, ob sie mehr als andere einen Boden bereiten für Missbrauch seelischer oder körperlicher Art.
Der Musikpädagoge Christoph Richter vergleicht eine zeitgemäße „Meister-Lehre“ mit einem künstlerischen Entdeckungs- und Erkenntnisprozess, der ein suchender, offener, abwägender, kritischer und dialogischer sein muss.3 Dagegen stellt er ein traditionelles und unreflektiertes Verständnis von „Meister-Lehre“: „Beharren auf fertigen und angeblich bewährten Lösungen und Methoden, das Einfordern von Gefolgschaft – und auf der anderen Seite das unkritische Übernehmen und Nachmachen.“4 In eben dieser blinden Gefolgschaft liegen allerdings die historischen Wurzeln der instrumentalen Ausbildung in Europa: Meister bildeten Lehrlinge und Gesellen aus; bei den von ihnen organisierten Funktionsmusiken durften diese im Sinne eines „learning by doing“5 das Gelernte gleich anwenden: „Lernen durch Nachmachen, Abgucken, Mitmachen“.6 Der Meister war der eigentliche und einzige Bezugspunkt: Ihm eiferte man in allen Fragen der Spiel- und Übetechnik, im musikalischen Geschmack, im Musikverständnis, aber auch in Fragen der Lebensführung nach.
Im Zuge eines Genie- und Virtuosenkults erhielt das Wort „Meister“ geradezu eine sak­rale Bedeutung: „Meister ,erleuchten‘ ihre Schüler. Diese werden seine ,Jünger‘, die ihren Meister […] über alles verehren, ihm ,nachfolgen‘ und seine Lehre tradieren.“7 Bis in unsere Zeit legitimieren sich Lehrende über die Ahnenreihe ihrer LehrerInnen, etwa Leon Fleisher, der äußerte: „I am in a line going back to Beethoven.“8 Nachahmung und Nacheifern in der Meisterlehre als dominierende Lernprinzipien machen Lehrende zu Vorbildern und beispielgebenden Autoritäten, die durchaus auch mit Befehlen oder dem Aufzwingen von Inhalten und Ansichten operieren.

Charismatische Führung – Stefan George

Das Spannungsfeld zwischen künstlerisch-intellektueller Vision, gewollter Abhängigkeit, Elementen von krassem Missbrauch auf der einen Seite sowie Faszination, blinder Gefolgschaft und menschlichen Tragödien auf der anderen Seite offenbart sich beim Blick auf den Dichter Stefan George und seinen Kreis teils minderjähriger Männer. Max Weber nannte diesen Männerbund eine „von künstlerischen Weltgefühlen getragenen Sek­te“, einen „charismatischen Herrschaftsverband“.9 Charisma definierte er als „magisch bedingte Qualität, um derentwillen eine Persönlichkeit als ,Führer‘ anerkannt wird“.10 Charismatische Erziehung hat zum Ziel, „Auserwählte wiederum charismatisch zu befähigen“. Dies setze die „Isolierung von der gewohnten Umgebung voraus“ sowie Umgestaltung der gesamten Lebensführung“.11 Webers Überlegungen lassen sich in vielen Punkten auf künstlerische Ausbildungszusammenhänge anwenden.
Gerade weil der George-Kreis keinen institutionell vorgegebenen Regeln und Machtverhältnissen unterworfen war, lässt sich an ihm gut studieren, welches Machtpotenzial in geistig-künstlerischer „Führerschaft“, in prophetengleichen Meisterfiguren liegt: Künstlerische Initiation, Heilsversprechen, Abhängigkeiten, schließlich Erniedrigung, Missbrauch – das Schüren von Rivalitäten, ein Spiel mit Begünstigungen, Degradierungen und Verstoßungen sind dabei Mittel zur Sicherung der meisterlichen Herrschaft. Ein abtrünniger Schüler erklärte, dass George unter dem Mantel des „pädagogischen Eros“ das „Urbild Meister-Schüler-Beziehung“ im 20. Jahrhundert neu etabliert habe, inklusive sexueller Handlungen.12 George-Biograf Thomas Karlauf spricht vom „ungeheuerliche(n) Versuch, die Päderastie mit Hilfe pädagogischen Eifers zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“.13 Es ergibt sich das verstörende Bild eines von Sendungsbewusstsein getriebenen Charismatikers, der – ausgehend von seinem Selbstverständnis als „großer Dichter“ und Visionär – eine geistige Führerrolle ergriff, über die er begabte Jugendliche auch mit Heilsversprechen an sich band, mit teilweise katastrophalen Folgen für die Betroffenen.

Machtmissbrauch – Versuch einer Typologie

Berichte von sexuellen Übergriffen im Musikunterricht und über deren seelische Folgen gibt es zahlreich. Im Zuge der MeToo-Debatte haben viele Opfer den Mut gefunden, von ihren Fällen zu erzählen. Bei den Übergriffen geht es um verschiedenste Formen wie verbale, sexuell konnotierte Belästigungen, unerwünschte Berührungen bis hin zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Übergriffe scheint es in vielen Lehrkonstellationen zu geben. Es lassen sich aber wiederkehrende Muster erkennen. Dabei gilt: Taten bleiben Taten – mit der Analyse von Mustern und Kontexten werden diese nicht erklärt und keinesfalls entschuldigt. Der Versuch einer beispielhaften Typologie kann jedoch für problematische Zusammenhänge sensibilisieren.

Der Heilsbringer14
In vielen Berichten wird beschrieben, dass Lehrende bei manchen Studierenden eine gewisse Scheu konstatieren, sich emotional und körperlich frei zu äußern. Eine Verunsicherung mag in der Studiensituation begründet sein, Verehrung und Machtgefälle oder eine fremde Umgebung können eine Rolle spielen, Demut gegenüber dem „Meister“ durch Erziehung mitgegeben sein. Der „Meister“ diagnostiziert dies als Defizit, das nur er zu beheben in der Lage sei – falls man sich ihm ganz anvertraue. Dieses Handlungsmuster erinnert an George, nach dem nur die von ihm angeleitete Entwicklung zu Wahrheit, Erkenntnis, „neuer Kunst“15 oder gar Erlösung führte. Im Zuge von vorgeblich therapeutischen Maßnahmen werden dann auch Grenzen verletzt. Besonders häufig wird davon berichtet, dass ein Meister Studierenden aus anderen Kulturkreisen dabei „helfen“ wolle, sich von ihrer Erziehung und ihren kulturellen Prägungen zu „befreien“. Auch diese Mechanismen einer Machtschöpfung erinnern an George, der von seinen Jüngern verlangt hatte, mit dem bisherigen Leben zu brechen. Kulturelle „Initiation“, im extremen Fall sexuelle „Befreiung“ durch den „Meister“: Schwerste Übergriffe werden somit in zynischer Weise getarnt als Lernziel.

Der mächtige Kumpel
Spontan könnte man denken, dass es immer dann leichter zu Grenzverletzungen kommt, wenn das Hierarchiegefälle im Unterrichtsverhältnis nicht zu groß ist. Dann sitzt das Gespräch etwas lockerer, ist die private und letztlich die intime Verabredung „natürlicher“. Jedoch können auch machtbewusste Personen, die Gefolgschaft und Gehorsam einfordern, eine freundschaftliche und heimelige Atmosphäre schaffen. So wird von George berichtet, er sei im persönlichen Umgang überraschend „einfach“ gewesen. Man etablierte im privaten Rahmen eine lockere „Gruppe“, in der man sich austauschte und anvertraute.
Wenn es um Übergriffe geht, wird allerdings besonders häufig ein Muster beschrieben, nach dem sich Dozierende nahbar geben, mit Studierenden im Café, im Theater oder Schwimmbad verabreden oder das verstehende, vertraute Gespräch „von gleich zu gleich“ suchen.16 In diesen unklaren Situationen zwischen Professionellem und Privatem mit geringer sprachlicher Distanz lässt sich manchen suggerieren, sie seien über die persönliche Nähe zu der wichtigen Persönlichkeit, die über Karrieren entscheiden kann, schon Teil des Betriebs, in den sie unbedingt eintreten wollen. Das kann von eben diesen „wichtigen“ Personen ausgenutzt werden, es können auch spiralartige Entwicklungen entstehen. Ein Machtgefälle bleibt freilich immer bestehen: Die mächtige Person hat – institutionell vorgegeben – in der Regel einen höheren sozialen Status und ein weitgehendes „Deutungsmonopol“, sie entscheidet über Noten und Studienverläufe, führt in Netzwerke ein. Es ist immer die Lehrperson, die den „Ton“ vorgibt – es hilft, diese Tatsachen transparent zu machen.

Der Fürst
Im Zuge der MeToo-Debatte ist besonders ein dritter Typus beschrieben worden: Der des sich seiner Macht bewussten Herrschers, der sich gleichsam außerhalb des juristischen Rahmens sieht und sich jederzeit das Recht herausnimmt, übergriffig zu werden. Er hält sich schon aufgrund seiner Position für unwiderstehlich und versteckt seine Absichten nicht einmal. Den Zwischenschritt der „Verführung“ im Sinne Georges spart er sich. Häufige Tatbestände sind Drohungen, Nachstellungen, Nötigungen, Vergewaltigungen.

Lehrverständnis und Übergriff

Sexuelle Übergriffe sind besonders verabscheuenswürdige Formen des Machtmissbrauchs und der Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen. Aber auch Ausprägungen des seelischen Missbrauchs, Erniedrigung, Erzeugung von Hörigkeit, Formen der Erpressung, Anwendung von Zwang sind nicht hinnehmbar. Sie stehen, das ist meine These, zumindest auch in Zusammenhang mit einem spezifischen Lehrverständnis, das ich pointiert erläutere:
Der „Heilsbringer“ schafft einen Kult um sich herum, über den er schwere Abhängigkeiten provoziert, selbst wenn es nicht zu sexuellen Übergriffen kommt. Viele verstehen sich als Guru und versehen ihre Lehre mit ­einer Vorstellung von Exklusivität, die jeden Kontakt der Studierenden zu alternativen Lehrmeinungen ausschließt. Wer sich bei anderen ergänzend ausbilden lassen möchte, wird zum Verräter.
Lehrkräfte betätigen sich im Unterricht therapeutisch, obwohl sie dafür in der Regel weder ausgebildet noch bevollmächtigt sind. Betrifft diese „Therapie“ Aspekte der Körperwahrnehmung, kommt es immer wieder zu Grenzverletzungen. Betrifft sie Fragen der Persönlichkeit, entsteht Schaden durch dilettantisches Vorgehen und durch seelische Übergriffe.
Dozierende „vernichten“ mit einem Feedback. An vielen Hochschulen fehlen transparente Beschreibungen von Zielkompetenzen, was den Boden bereitet für Willkür, Begünstigungen, Benachteiligungen.
Dozierende können auch künstlerischen Gehorsam einfordern – schließlich sitzen sie meist als Haupt-Begutachtende auch in der Abschlussprüfung. Ein unreflektiertes „fürstliches“ Meister-Denken, dessen Ziel die erfolgreiche Nachahmung des Vorbilds durch die Lernenden ist, stößt hier auf einer sehr einfachen Ebene an klare ethische Grenzen. Widerspruch ist nicht vorgesehen. Kaum vorstellbar, dass in einem solchen Kontext Studierende Respekt, Fairness oder auch mehr körperliche Distanz einfordern können.
Gegen die Ausübung von direkter Gewalt und Zwang, gegen die „Knechtschafft der Kunst-Pfeifferey“, ihre „Sclaverey und Prügel=Probe“ wandte sich schon Johann Mattheson.17 Ulrich Mahlert konstatiert: „Späte Relikte solcher Gepflogenheiten sind Anschreien, Beschimpfen, Verächtlichmachen, Liebesentzug und anderer Psychoterror.“18

Statt eines Fazits

„Meister“ sind natürlich weder üblicherweise noch notwendigerweise Täter. Künstlerische und künstlerisch-pädagogische Exzellenz darf – möglicherweise muss – mit Charisma, starken Überzeugungen, fachlicher Besessenheit und ästhetischer Leidenschaft ebenso einhergehen wie mit einem verantwortungsvollen Sendungsbewusstsein. Und es gibt erwiesenermaßen Übergriffe in flachen Hierarchien ebenso wie in autoritären Lehrverhältnissen.
Die Schlussfolgerung liegt allerdings nahe, dass bestimmte didaktische Konzepte (oder das Fehlen von ebendiesen) eher den Boden für bestimmte Arten des Missbrauchs von Macht und Verantwortung bereiten als andere. So mag an der Stelle eines Fazits ein Plädoyer stehen: Wenn es im Unterrichtsverständnis die Ebene des erwarteten Gehorsams und der inhaltlichen, seelischen oder persönlichen Abhängigkeit überhaupt nicht gibt, ist ein Übergriff auch weniger wahrscheinlich. Unreflektierte Schulen- oder Legendenbildungen haben in einer zeitgemäßen Didaktik, die sich auf ein modernes, aufgeklärtes Bildungsverständnis beruft, keinen Platz. Verzichtet man auf umfassende, also nicht-punktuelle Nachahmung, rückt die Lehrperson automatisch aus dem Fokus; den freiwerdenden Raum nehmen die Inhalte sowie die lernende Person mit ihren eigenen Voraussetzungen, Sichtweisen und Bedürfnissen ein. Versteht man Lehre in dieser Weise als kompetente Begleitung eines Lern- und Aneignungsprozesses, ergibt sich ein respektvolles Unterrichtsverhältnis, in dem Übergriffe keinen Platz haben. Respekt ist dann kein von außen herangetragenes Prinzip, sondern eine aus den Bedingungen selbst erwachsende Selbstverständlichkeit.

1 Der vorliegende Text stellt eine gekürzte Version des folgenden Artikels dar: Hölscher, Florian: „Meister, Guru – und Täter?“, in: Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (Hg.): Begegnung. Nähe. Grenzen. Ein Handbuch für den Hochschulalltag, Frankfurt am Main 2022, S. 20-29.
2 vgl. Mahlert, Ulrich: Wege zum Musizieren, Mainz 2011, S. 35-43.
3 Richter, Christoph: „Meister-Unterricht. Prinzipien der Meisterlehre früher und heute“, in: üben & musizieren 3, 2012, S. 6-11, hier: S. 10.
4 ebd.
5 vgl. Bork, Magdalena: „Jenseits von ,gut‘ und ,böse‘. Meisterlehre im 21. Jahrhundert – Erkenntnisse aus einer Wiener AbsolventInnen-Studie“, in: üben & musizieren, 3, 2012, S. 12-16, hier: S. 12.
6 Richter, S. 7.
7 Mahlert, Ulrich: Editorial zum Themenheft „Meisterlehre“, üben & musizieren, 3, 2012, S. 1.
8 Fleisher, Leon: My nine lives, New York 2010, S. 67.
9 vgl. Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 22019, S. 410-418.
10 ebd., S. 412 und 416.
11 ebd., S. 417.
12 Karlauf, Thomas: „Päderastie aus dem Geist Stefan Georges? Interview mit Julia Encke“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.4.2010.
13 Karlauf, Stefan George, S. 394.
14 Eine genderneutrale Formulierung würde hier und im Folgenden kein realistisches Bild vermitteln.
15 vgl. Karlauf, Stefan George, S. 17.
16 Solche Aktivitäten können selbstverständlich auch tatsächlich einvernehmlich stattfinden, so wie es auch zu einvernehmlichen Liebesverhältnissen zwischen erwachsenen Menschen aus dem Lehrkontext heraus kommen kann.
17 zitiert nach Mahlert, Ulrich: „Mächte und Ohnmächte. Musizierunterricht als Machtgefüge“, in: üben & musizieren, 1, 2021, S. 6-10, hier: S. 8.
18 ebd.

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