Schwaen, Kurt

Minh. Nocturne de loin (1987)

für Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Verlag Neue Musik, Berlin 2009
erschienen in: üben & musizieren 5/2009 , Seite 60

Der 2007 mit 98 Jahren verstorbene Kurt Schwaen erhielt in seiner oberschlesischen Geburtsstadt Kattowitz vom Reger-Schüler Fritz Lubrich jun. (1888-1971) seine grundlegende Ausbildung in Klavier, Orgelspiel und Tonsatz. In Breslau und Berlin studierte er Musikwissenschaft, verbrachte als Regimegegner die Jahre 1935 bis 1938 im Zuchthaus und überstand den Krieg in einer Strafdivision. Ab 1953 lebte er als freischaffender Komponist in Ostberlin und wurde eine der führenden Künstlerpersönlichkeiten in der DDR.
Ein Schlüsselerlebnis in seinem Schaffen war die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Nach dem Zusammenbruch der DDR bekannte er sich weiterhin als Kommunist, ließ sich von seinem Freundeskreis mit einer eigenen Zeitschrift („Mitteilungen des Kurt-Schwaen-Archivs“) feiern und wirkte unermüdlich bis ins biblische Alter.
Von den Tanzbildern aus dem Jahr 1940 bis zu einem fünfsätzigen Mosaik aus dem Jahr 2005 umfasst das Klaviersolo-Schaffen von Kurt Schwaen mehr als 40 zumeist kürzere Werke. Eine knappe, mitunter karge Diktion ist für Schwaens Stil charakteristisch. Er selbst formulierte: „Was du nicht mit drei Tönen sagst, das sagst du auch nicht mit hundert.“ Dabei liegt das poetische Raffinement des Komponisten in der kleinen, kaum wahrnehmbaren harmonischen oder figurativen Veränderung, in der wohlkalkulierten Überraschung und in einer guten Balance zwischen Statik und Dynamik, nämlich zwischen wiederholten, variierten und neuen Bausteinen.
Alle diese Qualitäten lassen sich in der jetzt erstmals edierten Nocturne de loin gut nachvollziehen. Das 1987 entstandene, vierminütige Allegretto-Stück, auf mittlerer Schwierigkeitsstufe anzusiedeln, spielt mit bitonalen Effekten vorwiegend in der oberen Mittellage des Klaviers. Dabei gab die „haptische“ Aufteilung schwarze Tasten rechts, weiße links – und umgekehrt – dem Komponisten offenbar wichtige Impulse. Über dem zentralen Basston e wird die Quartenschichtung e-a-d akkordisch in Achteln vorgestellt und bis in eine arpeggierte Zweiunddreißigstel-Bewegung hinein variiert – alles unter dem Gesetz klavierklanglicher Fantasie und nicht etwa dogmatisch verarbeiteter Kompositionsschemata.
Dynamische Angaben fehlen merkwürdigerweise völlig, doch empfiehlt sich nicht zuletzt wegen der im Titel angedeuteten „Fern“-Wirkung eine eher leise Interpretation mit zarten Schattierungen. Der Haupttitel des Stücks verweist auf Schwaens langjährige Zusammenarbeit mit der 1956 geborenen, in Moskau ausgebildeten vietnamesischen Pianistin Ton Nu Nguyet Minh. Sie hat in den 1990er Jahren auf zwei CDs Schwaens wichtigste Klavierwerke eingespielt, darunter auch die Nocturne lugubre von 1992, ein dunkleres Schwesterwerk des hier besprochenen Stücks.
Rainer Klaas