Mantel, Gerhard

Mit der Klanglupe üben

Verfeinerung der klanglichen Ausdrucksmittel

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 35

Jede überzeugende Interpretation benötigt zwei Sichtweisen, die aus gegenüberliegenden Richtungen kommen: erstens den großen Überblick über das Ganze, über die Struktur, die eigentliche Bedeutung, das Gesamterlebnis eines Werks, mit den großen und kleinen Unterteilungen bis hin zur einzelnen Phrase als syntaktisch verständliche Einheit. Zweitens bedarf es einer scharfen Beobachtung zur feinsten Ausgestaltung aller Bausteine, die zum Verständnis dieser Bedeutung führen, bis hinunter zum Klang­verlauf einzelner Töne.

In diesem Workshop soll der Schwerpunkt auf der zweiten Ebene, der Verfeinerung der klanglichen Ausdrucksmittel liegen, wofür ein Notentext nur sehr spärliche Hinweise zur Verfügung stellt. Ein gedruckter Text ist nicht in der Lage, den möglicherweise dramatischen Klangverlauf z. B. einer halben Note in einem Adagio-Kontext darzustellen. Gedruckte Gabeln können nur Hinweise sein, nie genaue akustische Repräsentationen: Dynamische Bewegungen verlaufen nicht in Geraden, sondern in Kurven. Und selbst wenn diese gedruckt werden könnten, bliebe die Frage offen, wie laut, wie steil, wie plötzlich sich die Dynamik verschiebt. Es ist also immer dem Spieler anheimgestellt, eigene Entscheidungen zu treffen, die im Übrigen keiner verbalen Definition bedürfen und durchaus improvisatorischen Charakter haben können. Dabei müssen wir uns eingestehen: Verzicht auf eine Entscheidung ist auch eine Entscheidung!
Als „Klanglupe“ können wir ein Beobachtungsverhalten bezeichnen, das feinste Unterschiede in Klangereignissen aufsucht und bewertet. Eine Lupe, auch eine Klanglupe, vergrößert und verdeutlicht zwar ein Detail, kann aber dafür andererseits nur einen kleinen Ausschnitt fixieren. Trotzdem: Die genaue Beobachtung feinster klanglicher Details wirkt zurück auf die Deutlichkeit der ­Gesamtdarstellung eines Werks. Auch eine ­Rede entfaltet ihren Inhalt zu einer viel stärkeren Wirkung, wenn sie mit allen rhetorisch zur Verfügung stehenden Mitteln ausgestattet ist: Deutlichkeit der Aussprache, Intona­tion, Sprachklang, wechselnde Lautstärke, Tempo, Pausen. Eine Klanglupe ist also keine Spielerei mit voneinander unabhängigen Details, sondern bezieht ihre Bewertung durch das Ganze, durch die in einer Komposition dargestellte musikalische Idee. Sie dient also dazu, das Bild der ganzheitlichen Idee einer Komposition zu schärfen.
Eine Klanglupe beobachtet ausschließlich klangliche Bewegungen. Diese sind hauptsächlich in drei Parametern angesiedelt:
1. Dynamik,
2. Agogik,
3. Artikulation.
Man könnte als vierten Bewegungsparameter noch die Klangfarbe nennen, doch ist ­diese bei vielen Instrumenten nur in engen Grenzen variierbar; der Eindruck „Klangfarbe“ resultiert mehr oder weniger aus der spezifischen Mischung der drei zentralen Parameter Dynamik, Agogik und Artikulation – und am Ausdrucksverhalten eines Interpreten. Das Thema Klangfarbe ist darüber hinaus bei vielen Instrumenten physikalisch so komplex, dass es hier ausgespart bleiben möge.

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