Mahlert, Ulrich

Mit Heiligenschein

Erik Saties „Choral hypocrite“ für Violine und Klavier

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 1/2023 , Seite 30

Ein einfaches kleines Stück von zehn Takten, sorgfältig notiert, befremdlich in seinen Eigenheiten. Was ist das für eine Musik? Wie ist sie „gemeint“? Wie soll bzw. wie kann sie gespielt werden?1

Versuchen wir vor einer Beschäftigung mit dem Notentext eine Annäherung über die verbalen Formulierungen, die Satie dem Stück beigegeben hat. Sie sind bedeutsam für dessen Verständnis und seine Ausführung. Choral hypocrite – also ein „heuchlerischer“, „scheinheiliger“ Choral. Vielleicht ein Choral, der „so tut“ wie ein Choral? Ist heuchlerisch eventuell auch ein Hinweis für die SpielerInnen? Dann könnte „hypocrite“ bedeuten: Spielt so, als ob dies ein ehrwürdiger Choral sei. Dazu würde gut die am Beginn stehende Vortragsanweisung Grave passen. Ihr zufolge soll der Choral ernst und gewichtig erklingen.
In merkwürdigem Gegensatz dazu stehen allerdings die Dynamikangabe pianissimo in Takt 1 des Klavierparts sowie die Forderung „Sourdine“ (Dämpfer) für die Violine (siehe Notenbeispiel auf Seite 33). Nur einmal erhebt sich die Lautstärke über das pianissimo, allerdings nur für zwei Takte (7-8) in der Unterstimme des Klavierparts. Hier soll eine fallende Linie „très en dehors“, also sehr herausgehoben, gespielt werden. Ansonsten erklingt das Stück äußerst leise.
Die hohe Lage des Klavierparts verleiht der tiefer liegenden Violinstimme so etwas wie einen zarten Heiligenschein. Lässt sich diese Assoziation auf „hypocrite“ = „scheinheilig“ beziehen? Dann wäre es ein falscher, im Spiel ironisch oder gar parodistisch zu brechender Heiligenschein. Möglich wäre aber auch, die Idee „Heiligenschein“ ungebrochen beim Wort zu nehmen und zu versuchen, im Spiel die ironiefreie Epiphanie eines religiösen Gehalts zu entfalten.
Erik Satie arbeitete zwar etliche Jahre als Pianist in Pariser Cabarets, wuchs aber in seiner Heimatstadt Honfleur mit sakraler mittelalterlicher Musik auf. Und viele seiner frühen Werke, etwa die Gymnopédies oder die Gnossiennes, haben einen zeremoniellen Duktus, der teils altgriechische („Neogrec“), teils mittelalterliche („Neogregorianik“) oder mystische Imaginationen zum Klingen bringt. Im Blick auf solche Werke nannte Claude Debussy seinen Freund Erik Satie 1892 einen „Musicien Médiéval et doux, égaré dans ce siècle“2 („einen mittelalterlichen und sanften Musiker, der sich in diesem Jahrhundert verirrt hat“) – eine Bemerkung, die dem so Charakterisierten möglicherweise sehr gefallen hat: „Cela m’a apporté une grande joie. Oui.“3 („Das hat mir große Freude bereitet. Ja.“)

Choralgeschicklichkeit

Das Wort „hypocrite“, mit dem Satie seinen Choral kennzeichnet, steht in Zusammenhang mit der Bemerkung am Ende des Stücks. Übersetzt lautet sie: „Meine Choräle gleichen denen von Bach, mit dem Unterschied, dass sie seltener und weniger prätentiös sind.“ Hier ist der Witz offenkundig: Bach, der Großmeister des Chorals, hat mehr Choräle geschrieben als Satie, das dürfte bekannt sein; „prätentiös“ erscheinen sie gemessen an der vergleichsweise hemdsärm­ligen, wenn auch keineswegs reizlosen Tonsatzdiktion von Saties Choral.
Der Choral ist bei Bach die Mustergattung des regelgebundenen Komponierens, der Inbegriff des reinen Satzes. Das galt auch noch im 19. Jahrhundert. So äußerte sich etwa Robert Schumann im Blick auf die Ansprüche des Choralsatzes kritisch über Wagners Tannhäuser: „Da hat Wagner wieder eine Oper fertig – gewiß ein geistreicher Kerl voll toller Einfälle und keck über die Maßen […] aber er kann wahrhaftig nicht vier Takte schön, kaum gut hinter einander wegschreiben und denken. Eben an der reinen Harmonie, an der vierstimmigen Choralgeschicklichkeit – da fehlt es ihnen allen. Was kann da für die Dauer herauskommen!“4
Bis heute ist die Harmonisierung von Choralmelodien im Tonsatzunterricht eine grundlegende Übung. Saties Choral schert sich nicht um solche Ansprüche, vielmehr zeichnet er sich durch weidliche Nichtbeachtung choralgemäßer Satztechnik-Regeln aus. Vorhalte und Dissonanzen lässt der Komponist auch bei Fermaten gern unaufgelöst. So bleibt etwa auf dem Schlussakkord der Quartvorhalt c” in der Violinstimme stehen. Ungeschminkt erscheinen „verbotene“ Quint- und Oktavparallelen in der von der regulären Vierstimmigkeit abweichenden dreistimmigen Klavierphrase Takt 7/8, die mit einem unaufgelösten Nonakkord schließt. Somit trieft Saties Aussage, seine Choräle glichen denen von Bach bzw. kämen ihnen gleich, geradezu vor Ironie.

1 Eine Einspielung der drei Stücke Choses vues à droite et à gauche (sans lunettes) von Pascal Rogé (Klavier) und Chantal Juillet (Violine) mit Einblendung des Notentextes ist online zu hören: https://youtu.be/ZjhePSEU0fc (Stand: 3.1.2023).
2 „MOI, ERIK SATIE [1892-97] Une (auto)biographie fictive avec quelques ajouts et découvertes par Robert Orledge (2018)“, zit. nach: Booklet ERIK SATIE (1866-1925): Intégrale de la Musique pour Piano 3, Nouvelle Édition Salabert, Nicolas Horvat (Piano), S. 20; www.naxos.com/sharedfiles/PDF/GP763_booklet_French.pdf (Stand: 3.1.2023).
3 ebd.
4 Brief an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 22. Oktober 1845. Schumann Briefedition, Serie II: Freundes- und Künstlerbriefwechsel, Bd. 1: Robert Schumann im Briefwechsel mit der Familie Mendelssohn, hg. von Kristin R. M. Krahe, Katrin Reyersbach und Thomas ­Synofzik, Köln 2009, S. 236 f.

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