Behschnitt, Rüdiger

Mit Mut und Energie

Der Carus-Verlag feierte in schwierigen Zeiten sein 50-jähriges Bestehen mit einer Diskussion zur Zukunft der Chormusik

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 46

1972 empfand Günter Graulich, Gründer und Leiter des Motettenchors Stuttgart, einen Mangel an geeignetem Notenmaterial für seinen Chor. Anstatt über die Situation zu klagen, entschied er sich kurzerhand – ganz im Sinne schwäbischen Unternehmertums –, zusammen mit seiner Frau Waltraud einen eigenen Verlag zu gründen: die Geburtsstunde des Carus-Verlags.
50 Jahre später, im Jubiläumsjahr 2022, erinnern sich seine vier Kinder, damals zwischen fünf und elf Jahre alt, an die Anfangszeit, an „stetig anwachsende Notenstapel im ganzen Haus, viele Menschen ein- und ausgehend, Gespräche über Verlagsthemen, Ärger über dieses und jenes, die schwarz glänzende Druckmaschine im Keller, die Eltern am Klavier Handschriften abspielend, überhaupt deren enormes Arbeitspensum“. Längst ist das Unternehmen dem Elternhaus entwachsen und agiert aus einem modernen Gebäude in der Nähe des Stuttgarter Flughafens als weltweit tätiger Verlag für Chormusik. Auf rund 45000 Ausgaben ist der Katalog mittlerweile angewachsen. Von bedeutenden Komponisten wie Schütz, Bach, Mozart, Haydn, Schubert, Mendelssohn, Rheinberger, Fauré, Verdi und Puccini ist das für Chöre relevante Œuvre vollständig erschienen.
50 Jahre nach Verlagsgründung befindet sich die Chorszene aufgrund der Corona-Pandemie in ihrer schwersten Krise. Doch das Jubiläum nicht zu feiern, so Ester Petri, neben Johannes Graulich Geschäftsführerin bei Carus, sei keine Option gewesen. Und so tat das Familienunternehmen das, was es in den vergangenen 50 Jahren groß gemacht hat: Es stellte sich der Herausforderung und nutzte seine Jubiläumsfeier, um über die derzeitige Situation zu diskutieren. Schon die Gewichtung des Jubiläumsprogramms machte deutlich, wie ernst es dem Verlag mit dieser Entscheidung war: Erst nach (!) dem Festkonzert mit dem Kammerchor Stuttgart, der unter der Leitung von Frieder Bernius Werke aus dem Carus-Katalog von Bach bis Schönberg zur exquisiten Aufführung brachte, und der Laudatio des Musikwissenschaftlers und Bach-Experten Christoph Wolff schloss sich als ­Höhepunkt der Festveranstaltung statt der erwartbaren Grußworte ein hochkarätig besetztes Podiumsgespräch zur Zukunft der Chormusik an.
Unter der Moderation von SWR-Redakteurin Sabine Fallenstein stellte zunächst Kathrin Schlemmer von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt einige ernüchternde Ergebnisse der von ihr geleiteten ChoCo-Studie 2021 und 2022 zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Chormusik im deutschsprachigen Raum vor (PDF der vollständigen Studie zum Download unter www.nmz.de/choco). Von den 4300 (2021) bzw. 1000 (2022) befragten Chören beklagten etwa ein Drittel erhebliche Verluste bei den Mitgliederzahlen. Digitale Proben seien im Chorbereich nahezu unmöglich, das fehlende Gemeinschaftsgefühl mache den Sängerinnen und Sängern zu schaffen. Nach den ersten vier Wellen der Pandemie haben nur 60 Prozent der Chöre ihre ehemalige Größe von vor der Pandemie wieder erreicht, bei den Kinderchören sind es gar nur 50 Prozent. 20 Prozent der Chöre gaben an, noch immer selten oder gar nicht zu proben; und nur 16 Prozent konnten von Finanzhilfen profitieren.
Beim Blick auf die internationale Chorszene ergebe sich ein sehr heterogenes Bild, so Jan Schumacher, Universitätsmusikdirektor der Johann Wolfgang von Goethe-Universität in Frankfurt am Main: Während sich in den USA und Kanada die Chorszene fast wieder auf Normalniveau (von vor der Pandemie) befinde, sei in Südamerika und Südostasien ein großer Teil der Chöre zusammengebrochen.
Christian Wulff, ehemaliger Bundespräsident und seit 2018 Präsident des Deutschen Chorverbandes, sah trotz des Ernsts der Lage – etwa zehn Prozent weniger Chöre, mehr als zwanzig Prozent weniger Chormitglieder und zwei verlorene Jahrgänge im Kinder- und Jugendbereich – Anlass für Optimismus: Das gerade zu Ende gegangene Deutsche Chorfest in Leipzig habe ein deutlich gesteigertes Interesse von Medien und Wirtschaft erfahren. Wulff appellierte an die Kirchen, ihre Räume (kostenlos) für Chöre zu öffnen, und will sich bei der Politik dafür einsetzen, das Ehrenamt (auch finanziell) zu stärken. Und an SWR-Redakteurin Sabine Fallenstein gewandt: „Wie wäre es, wenn es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen künftig eine Show ,Deutschland sucht den besten Chor‘ gibt?“ Bei so einem Format sei Unterhaltung und Lebensfreude garantiert.
Klaus K. Weigele, Direktor der Landesakademie für die musizierende Jugend in Baden-Württemberg (Ochsenhausen), sprach sich dafür aus, das Singen in den Grundschulen strukturell zu verankern. Dort müssten Strukturen geschaffen werden, beispielsweise durch feste Chorstunden im vormittäglichen Stundenplan. Auf diese Weise könne auch die durch die Pandemie verursachte zunehmende soziale Vereinzelung bekämpft werden, denn nur in der Schule können Kinder und Jugendliche, die von der Pandemie besonders stark betroffen sind, zu 100 Prozent erreicht werden.
Johannes Graulich schließlich, geschäfts­führender Gesellschafter von Carus, machte deutlich, dass der Verlag in dieser schwierigen Situation alles tun werde, um den Chören zu helfen. In Planung sei etwa ein Chorbuch mit nur einer Männerstimme – als Reaktion auf die immer häufiger anzutreffende Situation, dass es in Chören immer weniger Männer gebe.
Trotz des ernsten Themas verbreitete das Jubiläumsfest in der Stuttgarter Musikhochschule eine besondere, hoffnungsvolle Atmosphäre. Man konnte spüren, dass ein Familienunternehmen wie Carus seinen Mut und seine Energie nicht nur aus dem starken Zusammenhalt der Familie bezieht – neben dem 95-jährigen Gründer Günter Graulich waren alle vier Kinder mit ihren Familien anwesend –, sondern dass auch die aktive Beschäftigung mit (Chor-)Gesang eine wohl­tuende Wirkung erzielt: Zum Abschluss sang der gesamte Saal, unterstützt vom Ulmer Spatzen Chor, der die Podiumsdiskussion musikalisch eingeleitet hatte, und angeleitet von Klaus Brecht ein Shalom-Quodlibet. Da war sie wieder: die segensreiche Kraft der Musik!

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