Claussen, Jan Torge

Musik als Videospiel

Guitar Games in der digitalen Musikvermittlung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim 2021
erschienen in: üben & musizieren.research 2022

 

 

 

E-Gitarre spielend lernen oder ein Spiel mit E-Gitarre lernen?


Rezension zu:
Claussen, Jan Torge (2021). Musik als Videospiel. Guitar Games in der digitalen Musikvermittlung. MusikMachDinge. ((Audio)). Ästhetische Strategien und Sound-Kulturen, Band 4. Hildesheim: Olms. 292 Seiten, Paperback, 42,00 Euro, ISBN 978-3-487-15855-6

Rezensent: Marc Godau
Rezension veröffentlicht am: 08.11.2022

1. Kompetenzentwicklung mit einem Musikvideospiel

Jan Torge Claussen hat mit seiner 2021 als Open Access[1] erhältlichen Dissertation eine erste umfangreiche Arbeit zum Musiklernen mit Videospielen im deutschsprachigen Raum vorgelegt. Forschungsgegenstand sind Guitar Games mit besonderer Beachtung des Musikvideospiels Rocksmith 2014 (Ubisoft). Ausgangspunkt seiner explorativen Studie ist die Behauptung des Herstellers: „Rocksmith is the fastest way to learn guitar“ (S. 165). Untersucht wird ein Universitätsseminar, in dem Studierende E-Gitarre mit diesem Videospiel lernen.

Die musikpädagogische Relevanz dieser Schrift ergibt sich insbesondere durch die Berücksichtigung essenzieller Fragen musikalischer Bildung im Digitalzeitalter. Um nur einige zu nennen, finden sich Antworten darauf, wie medientechnologische Entwicklungen im 21. Jahrhundert Zugänge zum Instrumentallernen verändert haben und in welchem Verhältnis diese zu historisch etablierten Standards stehen, wie didaktische Vorstellung in digitale Musiktechnologien eingeschrieben sind, wie durch Gamification musikalische Kompetenzen gefördert werden können oder welche Rolle nicht zuletzt Lehrkräften in einem solchen Unterricht zukommen kann. Rocksmith zählt in der wissenschaftlichen Community zu den häufig rezipierten Musikvideospielen, weshalb die Forschung im Vergleich zu anderen Games in der Musikpädagogik recht präsent ist (z. B. Brudvik & Hebert, 2020; Graham & Schofield, 2018; Jenson et al., 2016; Havre et al., 2018; Nguyen, 2020) und bereits drei Dissertationen hervorgebracht hat (Claussen, 2021; Melendez, 2018; Rodriguez, 2019).

Die Dissertation von Jan Torge Claussen thematisiert wissenschaftliche Diskurse um Spiel-, Musik- und Medienkultur sowie zur Kompetenzentwicklung durch Gamification, zum Lernen in der Populären Musik und zum Wandel von Musiktechnologien. Zudem wird eine bemerkenswerte Palette diverser Musikvideospiele vorgestellt, mit der Entwicklungslinien im Game-Design gebündelt werden, die Arbeit mit den Heuristiken veranschaulicht und die gitarristische Perspektive erweitert wird. So gelingt in der Promotionsschrift eine breite Anbindung an diverse musikalisch-ästhetische Lehr-Lernkontexte, wodurch sie sich von anderen Arbeiten zu dem Thema abhebt. Zugleich können die knapp 300 Seiten einschließlich der Online-Materialien Impulse liefern, wie Digitaltechnologien für das Instrumentallernen in (Hoch-/Musik-)Schule integriert werden können.

2. Theoretische Grundlagen der Arbeit

Der empirischen Untersuchung sind drei einführende Kapitel vorgelagert, die in Prämissen und grundlegenden Annahmen zu Musik als Spiel(en), E-Gitarre und Guitar Games sowie zu digitalen Lehr- und Lernmethoden einführen. Diese Kapitel veranschaulichen die theoretischen Schwerpunkte anhand diverser Beispiele, wobei die Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels den roten Faden der Arbeit spinnen.

Eine fundamentale Analysefolie bilden die beiden Spieltheoretiker Johan Huizinga und Roger Caillois, deren Theorieprämissen anhand zahlreicher Beispiele auf verschiedene Musikkontexte und Videospiele übertragen werden. Von dort aus wird der Bogen zur eigenen Studie über Gamification und Serious Games geschlagen. So wird die Zweckfreiheit zugunsten einer Zweckgebundenheit verlassen, damit wie im Falle von Gamification „Handlungsräume wie Arbeit und Bildung […] mit den Methoden des Spiels umgeformt und dynamisiert werden“ (S. 53 f.). Im Rückgriff auf Caillois und die Spieldesigner:innen Salen und Zimmermann (2010) wird Musik als Spiel eingeführt. Dabei wird zwischen Play und Game differenziert und in Analogie zum freien Spiel (paidia) wie bei freier Improvisation und zum geregelten Spiel (ludus) wie bei einer regelgeleiteten Performance mit quantifizierbarem Ergebnis gesetzt (S. 51 f.). Musikalische Kompetenz und ästhetische Erfahrungen werden dabei eher dem freien Spiel zugeordnet, weil sie nicht abschließend messbare Größen darstellen (vgl. S. 126). Rocksmith bewegt sich zwischen ludus und paidia. Freie Spielmodi (einen beliebten Song mitspielen, Jammen oder einen neuen Sound kreieren) stünden dabei neben den vom Spiel formulierten Handlungsaufträgen sogenannter Missionen und zusätzlichen Empfehlungen, die didaktisch orientiert unterschiedliche Aspekte des E-Gitarrenspiels vermitteln sollen (S. 202).

Über ludologische Perspektiven – insbesondere über Mimikry – sowie einen weiten Musikbegriff im Sinne von Musicking (Small, 2011) wird herausgearbeitet, wie sich Musikvideospiele als elektronische Musikinstrumente begreifen lassen. Hergestellt werden ebenso Parallelen zum Diskurs über Digital Audio Workstations (DAWs) als Musikinstrumente oder Sampler. Argumentativ wird das durch designtheoretische Auseinandersetzungen mit materiellen Bedingungen von Klangerzeugung und Interface gestützt: Beide sind „bei herkömmlichen akustischen Instrumenten miteinander verschränkt“ und „werden […] im Fall von elektronischen Instrumenten […] voneinander getrennt“ (S. 72). Darauf aufbauend wird auf historische Entwicklungen der E-Gitarre, Rockkultur und näher auf Spielprinzipien, historische, didaktische und mitunter controller-bezogene Aspekte von Guitar Games eingegangen. Untersucht wird anhand von vier Spielen (Guitar Hero, Rocksmith, BandFuse und Yousician), wie über Gamification Zugänge zum Gitarrespielen geschaffen werden.

Musik ist für Claussen immer schon Medienmusik, da es sich um eine von Technik(en) und Instrumenten geprägte Kunstform handelt. Im Gegensatz zu Synthesizern oder Software etc. räumt er Musik-Videospielen eine Extremposition ein, sodass diese eher Medienkompetenz anstatt musikalische Kompetenzen zu fördern scheinen (S. 124). Fallen also zunächst Medien und Musik zusammen, werden sie aufgrund des eigenen Forschungsgegenstands (analytisch) getrennt. Infolgedessen nimmt er zum einen in Vorbereitung seiner empirischen Studie(n) zunächst Anschluss an die Kompetenzdebatte um Weinert und Klieme, die Claussen über Knigge (2014) importiert. Musikalische Kompetenz sei „eine Fähigkeit, die grundsätzlich zum erlernbaren musikalischen Wissensschatz gehört und als solche erkennbar ist“ (S. 127 f.). Wichtig für Videospiele ist der Einfluss von Programmierer:innen, der anhand der Notetracker exemplifiziert wird. Sie sind diejenigen, die ausgehend von einer Originalaufnahme diese in „einen ‚lernbaren Idealzustand‘“ (S. 129) in die Software übertragen, sozusagen didaktisch reduzieren, wodurch ihr subjektives Verständnis des Songs und von musikalischer Kompetenz ‚hineinprogrammiert‘ wird (ebd.). Zum anderen wird Medienkompetenz in Referenz auf Dieter Baacke definiert als „die Fähigkeit, Medien und die dadurch vermittelten Inhalte den eigenen Zielen und Bedürfnissen entsprechend effektiv nutzen zu können“ (Baacke, 1997). Claussen geht davon aus, dass Spiele wie Rocksmith sowohl musikalische Kompetenzen als auch Medienkompetenzen vermitteln können. Dazu zählt, dass Spieler:innen die Spielmechaniken durchschauen, die Fortschritte kritisch reflektieren oder das Spiel wie im Falle von Hacker:innen selbst gestalten (vgl. S. 131). Und digitale Musikvermittlung begreift er in Abgrenzung der klassischen Reservierung des Begriffs für Formate wie Konzertvermittlung o. Ä. als einen (letztlich) didaktischen Lehr-Lernprozess, den er als wechselseitige Kommunikation „zwischen dem Lehrmedium oder dem Lehrenden und den Lernenden“ (S. 133) versteht.

Claussen kritisiert formale Bildungsinstitutionen dahingehend, dass diese tendenziell die technologisch bedingten Entwicklungen und die einhergehenden Kompetenzansprüche in populären Musikkulturen vernachlässigen würden (S. 133). Das illustriert er anhand der E-Gitarre und mithilfe des Diskurses um das Lernen Populärer Musik in informell-außerinstitutionellen Kontexten (Green, 2002). Er hebt jene medientechnischen Entwicklungen hervor, infolge derer popularmusikalische Instrumente nicht mehr einzig durch Heraushören oder Transkribieren von Songs, sondern durch neuartige Formen der Notation und Medien gelernt werden können. Neben vielfältig vorhandenen Varianten der Tabulaturnotation (z. B. Songsterr), der westlichen Standardnotation oder Lehrbüchern sind klingende Partituren und YouTube-Tutorials hinzugetreten. Videospiele verfahren anders, weil darin einerseits Musik notiert wird auf sogenannten Note-Highways, bei denen auf einer dem Gitarrenhals nachempfundenen Bahn die zu spielenden Töne als farbige Punkte den User:innen entgegen kommen. Andererseits werden Teile musikalischer Kompetenz, nämlich Können (hier: Treffen der richtigen Töne) und Präzision (hier: Timing) über ein sofortiges Feedback auf dem Bildschirm angezeigt und fortlaufend gemessen.

Die Konsequenzen seiner Ausführungen für formale Institutionen verdeutlicht er an zwei Beispielen. Erstens werden Einblicke gegeben in True Fire, einer australischen community-basierten interaktiven Online-Plattform mit Lektionen renommierter Größen wie etwa Steve Vai. Zweitens wird am Konzept von Berklee Online der renommierten US-amerikanischen Musikhochschule beleuchtet, wie in verschiedenen Fächern Bachelor- und Master-Studienabschlüsse erreicht werden können. An diesen beiden formalen Angeboten arbeitet Claussen heraus, wie sie verschiedene Spielmerkmale wie Wettkampf oder direktes Feedback integrieren. Jan Torge Claussen veranschaulicht anhand vieler Beispiele und in konstantem Rückbezug auf die eingeführten Theoriekonzepte, wie ludische Elemente und Mitgestaltung durch User:innen das Musiklernen (nicht nur) der E-Gitarre in digitaler Kultur mitbestimmen.

3. Empirische Studie(n): Inwiefern lässt sich mit Rocksmith das Gitarrespielen erlernen?

Nach den theoriegeleiteten Analysen von Guitar Games, werden ein autoethnografischer Bericht und eine explorative Studie vorgestellt. Wie eingangs erwähnt besticht Letztere durch ihr auch didaktisch spannendes Design: E-Gitarre lernen mit einem Videospiel. Der umfangreiche Korpus an qualitativen und quantitativen Daten weist auf ein Forschungsinteresse, das diverse Ebenen der Lernprozesse von Erlebensberichten über Nutzungsprotokolle im Game bis hin zu standardisierten Erhebungen einzufangen sucht. Zudem werden Zusatzmaterialien zur Verfügung gestellt, die über QR-Codes oder Links auf einer begleitenden Internetseite[2] bereitgestellt wurden und die das Projekt veranschaulichen.

Ausgehend von einer zu Marketingzwecken in Auftrag gegebenen und als repräsentativ ausgewiesenen, aber nie über ein Poster hinaus verdeutlichten Erhebung seitens des Herstellers Ubisoft fragt Jan Torge Claussen, „auf welche Weise [mit Rocksmith 2014] welche Kompetenzen vermittelt werden, und wie das Verhältnis zwischen Videospiel und Instrumentalspiel dabei organisiert ist“ (S. 168).

Vorangestellt wird der Hauptuntersuchung ein knapper Bericht einer Autoethnografie, in der die eigenen biografischen Erfahrungen als E-Gitarrist mit Programmen wie GuitarHero und Rocksmith einfließen. Die Selbstreflexionen über vier Buchseiten (S. 169-172) sind so kurz gehalten, dass der Wandel von Skepsis gegenüber Programmen wie Guitar Hero zur Offenheit gegenüber digitalen Technologien für das Gitarrenspiel bzw. -lernen im Allgemeinen sowie gegenüber Musiklernspielen wie Rocksmith im Speziellen skizzenförmig bleibt. Deutlich wird jedoch, dass die anfänglich demotivierenden Bedienungsprobleme aufgrund der Darstellungsform durch die eigene Musikpräferenz für Jimi Hendrix zur intensiven Nutzung von Rocksmith führten (S. 170 f.). Im Kontext der Gesamtfragestellung nach Kompetenzen wäre es lohnenswert, die eigenen Kompetenzentwicklungen über die beschriebenen Haltungsänderungen hinaus zu vertiefen und ähnlich der von Claussen selbst zitierten Autoethnografie Millers (2012) die darauf bezogenen Praktiken zu beleuchten.

Die anschließende Hauptstudie untersucht, wie 17 Studierende des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation an der Stiftung Universität Hildesheim über den Zeitraum eines Semesters in einem Seminar mithilfe des Videospiels Rocksmith 2014 E-Gitarre lernen. Dazu erhielt jede:r Teilnehmende eine E-Gitarre, das Musikvideospiel und ein spezielles Verbindungskabel (Monoklinke auf USB), mit dem das Instrument an den Computer angeschlossen werden konnte.

In diesem Lernexperiment und -projekt nutzten die Proband:innen das Guitar Game und reflektierten ihre Nutzung mit unterschiedlichen Methoden. In einem (digitalen) kursbegleitenden Lerntagebuch dokumentierten sie (1) wöchentlich mithilfe von Leitfragen ihre Lernprozesse. Diese schriftlichen Daten wurden inhaltsanalytisch nach Mayring (2010) analysiert. Zusätzlich dienten (2) Gruppendiskussionen und teilnehmende Beobachtung als Datenmaterial. Bei den Diskussionen scheint es sich um spontane Gespräche in den Seminarsitzungen gehandelt zu haben. Diese wurden neben der Erwähnung in den angesprochenen Lerntagebüchern wohl auch mittels Gesprächsnotizen seitens des Forschenden festgehalten.

Die qualitativen Methoden werden (3) ergänzt um zwei Online-Fragebögen. Die erste Befragung erhob Selbsteinschätzungen der Teilnehmenden zu individuellen musikalischen Erfahrungen im Instrumentalspiel, Erfahrungen mit Videospielen und verschiedenen Lehr- und Lernmethoden sowie Angaben zur Motivation, sich Rocksmith zu widmen. In der zweiten Befragung eruierten sie jeweils ihre dazugewonnenen Kompetenzen nach Abschluss des Projekts. Darüber hinaus wurde (4) videografiert, wie die Proband:innen ein ausgewähltes Gitarrenriff spielen. Sie trugen dieses während des Semesters bis zu dreimal mit Rocksmith und schließlich einmal ohne vor. Screen-Recordings sowie Aufnahmen vom Oberkörper des/der Spielenden wurden vom Autor der Studie zu einem Video zusammengeführt und an zwei Instrumentallehrkräfte geleitet. Diese beurteilten die Spielkompetenzen auf einer sechsstufigen Skala im Hinblick auf Timing, Präzision, Können, spezifische Spieltechniken und Haltung. Diese Fremdeinschätzung wurden dann mit den Selbsteinschätzungen der Lernenden verglichen. Und schließlich wurden (5) die spielinternen Zeitstatistiken in Rocksmith erhoben.

Bei genauerer Betrachtung birgt die Arbeit weitere interessante Details, deren Stellung im Gesamtzusammenhang der Studie und ihre Herkunft noch deutlicher gemacht werden könnten. So wird etwa nebenbei in einer Fußnote von einem viertägigen Forschungsaufenthalt in San Francisco berichtet, bei dem die Firma Ubisoft besucht und ein Fokusgruppeninterview durchgeführt wurde (S. 150). Wie sich aus einer Fußnote einige Seiten zuvor entnehmen lässt, zählt hierzu ein Interview mit den beiden Notetrackers Travis Kindred und Brian Sheu zum Backend von Rocksmith (S. 128). Ebenso wird die Beziehung zwischen Entwickler:innen und Nutzer:innen erwähnt, sodass in Foren diskutierte Bedürfnisse zu konkreten Änderungen über Updates führen. Als Beispiel wird der Wunsch nach einer beständigen transparenten Anzeige der Fortschritte und Errungenschaften genannt (S. 167).

4. Erkenntnisse: ambivalentes Lernen

Aus den über 80 Seiten Interpretation lässt sich viel über Erfolg und Scheitern der Teilnehmenden erfahren. Zu den zentralen Erkenntnissen zählt, dass ein Guitar Game wie Rocksmith das Erlernen des Instrumentalspiels erleichtert und die erworbenen Fähigkeiten nicht auf das Videospiel begrenzt, obgleich Gitarre spielen außerhalb des Spiels nicht im Fokus der User:innen stünde. Intuitiv nachvollziehbar ist das Ergebnis, dass die Teilnehmenden durch Belohnungen bei erfolgreichen Missionen – vor allem durch Punkte und Freischaltung von Songs – motiviert und ihre anfängliche Euphorie durch technische Pannen gesenkt wurden. Allerdings förderten Letztere zugleich Fertigkeiten, solche Schwierigkeiten zu beheben. Damit blieb also der Umgang mit dem Spiel nicht auf Erfolg und Spaß reduziert, sondern lässt vielmehr in den anlaufenden Reflexionen eine Verbindung zwischen Musik- und Medienkompetenz erkennen. So gelangen die Studierenden zunehmend zur Einsicht, dass nicht das Spiel für ausbleibende Entwicklungen verantwortlich ist (S. 213). Übergreifend bewegen sich die Teilnehmenden in einer Ambivalenz, Gitarre zu lernen oder ein Spiel zu spielen. Dies scheint einer grundsätzlichen Erwartungshaltung geschuldet, denn „[a]ls Spielende wünschen sich die Probanden, dass das Lernen möglichst weit in den Hintergrund tritt und nahezu unbemerkt bleibt, während sie als Lernende oft das Gefühl haben, von Seiten des Spiels nicht ausreichend über ihren jeweiligen Fortschritt in Kenntnis gesetzt zu werden“ (S. 216).

Ein Drittel der Studierenden sieht Fortschritte auf dem Instrument, wobei vor allem Fortgeschrittene die eigene Kompetenzentwicklung schlechter bewerten (S. 219). Während auch Statistiken und Videobeurteilung eine grundsätzliche Verbesserung diverser Spieltechniken belegen, wird künstlerische Virtuosität als ästhetische Kompetenz von den Studierenden als eher unerreichbar eingeschätzt.

Beim Lernen der Studierenden überwiegt ein geregeltes Spiel (ludus), wobei freie Modi (paidia) kaum auftreten (S. 246). Claussen reflektiert kritisch im Fazit Spannungsverhältnisse insofern, als zwar Gitarrenspielen erleichtert würde, aber „Kompetenzen insbesondere in Bezug auf die E-Gitarre als Soundmaschine und als Medium zur individuellen ästhetischen Gestaltung vernachlässigt“ (S. 251) und vor allem Tracking auf quantifizierbare Parameter reduzieren würden.

Wichtig für die Musikpädagogik kann eine beschriebene Situation sein, in welcher der Forscher in seiner Rolle als Dozent trotz anfänglicher Selbstverpflichtung nicht zu intervenieren plötzlich ins Geschehen eingreift (S. 232). Alarmiert durch die Sehnenscheidenentzündung einer nach zwei Wochen vom Experiment ausscheidenden Teilnehmerin, korrigierte er mitunter im Seminar die Haltung des Instruments bei den Studierenden. Hier zeigt sich offenbar, dass Lehrenden weiterhin eine unterstützende Funktion obliegt.

5. Fazit und Ausblick

Gamification ist nach wie vor ein eher selten behandeltes Thema im deutschsprachigen Diskurs um Instrumentallernen. Somit schließt die sehr lesenswerte Schrift von Jan Torge Claussen eine wichtige Lücke. Erstaunlich ist demgemäß, dass trotz des Titels der Arbeit und Gegenstand der Studie Bezüge zur Musikpädagogik oder zu spieltheoretischen Perspektiven der EMP verschwindend gering ausfallen. Insgesamt ist die Arbeit beeinflusst von den Sound Studies sowie der Ludomusicology und versteht sich als „eine Brücke zwischen Kultur- und Medienwissenschaften auf der einen und den Musikwissenschaften auf der anderen Seite“ (S. 22). Und auch im Fazit werden einzig Anregungen zu „aktuellen medien- und musikwissenschaftlichen und nicht zuletzt auch mediendidaktischen Forschungsperspektiven“ (S. 250) gegeben. Dabei verdeutlichen nicht zuletzt die Ausführungen zu didaktischen Designs von Musikspielen sowie zum medienvermittelten und informellen Lernen, wie die Studie nicht nur Kompetenzentwicklung beim E-Gitarrelernen mit Digitaltechnologien untersucht, sondern letztlich didaktische Möglichkeiten eines Transfers außerinstitutioneller Medienkultur(en) in Bildungseinrichtungen und vice versa sucht.

Zudem verdeutlicht die Schrift einmal mehr die Problematik der Langatmigkeit des Wissenschaftsapparats, insofern die Dauer von Publikationsvorgängen zugleich ein Zurückfallen hinter die Forschung immens erhöht. So ist die (inter-)nationale, themenbezogene musikpädagogische Forschung angewachsen (z. B. Brudvik & Hebert, 2020; Graham & Schofield, 2018; Havre et al., 2018; Rodriguez, 2019). Beispielsweise schnitt Rocksmith für die Vermittlung musikalischen Wissens in der Studie von Jenson et al. (2016) im Vergleich zu anderen Musikspielen schlechter ab. Und auch Havre et al. (2018) erforschen die Erfahrungen von Teilnehmer:innen an einer hochschulischen Veranstaltung beim Üben von E-Gitarre oder E-Bass mit Rocksmith mit vergleichbaren Verfahren wie Interview, teilnehmende Beobachtung und Selbstberichten (ebd., S. 24). Dabei rekonstruieren sie vier Spielpositionen (Musician, Teacher, Technician und Gamer), deren unterschiedliche Perspektivierung zu divergierenden Umgangsweisen führen. Die Untersuchung von Graham und Schofield (2018) ähnelt mit ihrer geringen Teilnehmer:innenzahl, der Zusammenführung mehrerer Teilstudien und Methoden (Fragebögen & Experimente) ebenso den Designs der anderen Rocksmith-Studien.

Claussen betont kritisch, dass für einige Proband:innen das Guitar Game selbst in den Mittelpunkt rücke und ein Musikmachen außerhalb des Spiels nicht in Betracht komme (S. 239). Das bestätigt im Prinzip die Studie von Graham und Schofield (2018, S. 79), deren Proband:innen Rocksmith ebenfalls weniger als Lernwerkzeug zur Verbesserung des Gitarrenspiels denn als Videospiel verwendeten. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage, wer warum vom Game ablässt und sich in einer Band anderen Praktiken zuwendet. Mit dieser Diskussion der Kontextbezogenheit gerät er in genau die Diskussionslinie, die maßgeblich auch die Debatten um Kompetenzen sowie um informelles und formales Lernen bestimmen. Es scheint, als unterläge der Arbeit eine Normativität, die gelingendes E-Gitarrespielen an eine Ablösung vom Lernkontext bindet. Wenn trotz des didaktischen Settings (Gitarre lernen in einem Hochschulseminar mit Rocksmith) die Forschung von der normativen Erwartung geleitet wurde, dass die Teilnehmenden zu Bandmusiker:innen werden, dann hätte das sowohl in der Datenerhebung oder im Gesamtdesign der Studie auftauchen müssen. In gewisser Weise entwerten derartige Wünsche den besonderen ästhetischen Erfahrungsraum Musikvideospiel, indem sie weniger am Spielen als an anderen (geheimen) Plänen interessiert scheinen, denen derartige Musizierformen nur als motivierende Methoden dienen sollen. Betrachtet man Rocksmith streng als Teil digitaler Kultur, dann konkurrieren solche Videospiele mit anderen Praxen wie Musikmachen in Bands und bereiten nicht allein auf solche vor. Aus ebendiesen Gründen wäre es wichtig, an die bereits von Miller (2012) für Guitar Hero und Rodriguez (2019) für Rocksmith angesprochene Wichtigkeit von (Online-)Communities zu erinnern. Damit könnten die Kompetenzentwicklungen noch stärker in die von Claussen betonte Kontextualität eingeordnet werden, deren Darlegungen in den Theoriekapiteln ihm doch sehr gut gelang, in den Analysen bis auf Ausnahmen wie einer Studentin, die begann auf Twitch live zu streamen, ausgespart blieben (S. 245). Darüber hinaus hätten Anschlüsse an die Diskussion um ästhetische Erfahrungen beim Computerspielen (z. B. Feige, 2015) oder Musikmachen (z. B. Rolle, 1999) gemacht werden können, nicht zuletzt, weil erlebens- und erfahrungsbezogene Momente – und doch letztlich weniger Kompetenzen im strengen Sinne – im Zentrum der eigenen Studie stehen.

Mittlerweile hat sich Rocksmith gewandelt. Im Zuge dessen steht aktuell das Programm als Rocksmith+ zur Verfügung und soll laut Ubisoft demnächst auch als App in App-Stores erhältlich sein.[3] Jan Torge Claussen liefert mit seiner Dissertation eine wichtige Basis für eine ernsthafte, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musikvideospielen. Insgesamt ist das Buch für all diejenigen ein Muss, die sich mit Gamification, mediengestütztem Musiklernen oder musikalischer Bildung in digitaler Kultur beschäftigen. Für Musikpädagog:innen können die Zusammenführungen diverser Theoriestränge anhand vieler konkreter Illustrationen didaktische Impulse liefern, wie formale Bildungsinstitutionen an technologische Entwicklungen anschließen können und welche guten Gründe es dafür gibt.

Literaturverzeichnis
Feige, D. M. (2015). Computerspiele: Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Graham, K. & Schofield, D. (2018). Rock god or game guru: Using Rocksmith to learn to play a guitar. Journal of Music, Technology & Education, 11(1), 65–82.
Green, L. (2002). How Popular Musicians Learn: A Way Ahead for Music Education. Aldershot: Ashgate.
Huizinga, J. (2004[1938]): Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Translated by H. Nachod. 24th ed. Reinbek bei Hamburg: rororo.
Jenson, J., Castell, S., Muehrer, R. & Droumeva, M. (2016). So you think you can play: An exploratory study of music video games. Journal of Music, Technology & Education, 9(3), 273–288.
Knigge, J. (2014). Der Kompetenzbegriff in der Musikpädagogik: Verwendung, Kritik, Perspektiven. In J. Vogt, F. Heß & M. Brenk (Hg.). (Grund-)Begriffe musikpädagogischen Nachdenkens: Entstehung, Bedeutung, Gebrauch. Sitzungsbericht 2013 der Wissenschaftlichen Sozietät Musikpädagogik (S. 105–135). Münster: LIT Verlag.
Melendez, E. (2018). For Those About to Rock: Gender Codes in the Rock Music Video Games Rock Band and Rocksmith. FIU Electronic Theses and Dissertations. https://digitalcommons.f iu.edu/etd/3685
Miller, K. (2011). Playing Along: Digital Games, YouTube, and Virtual Performance. Oxford Music/Media Series. Oxford: Oxford University Press.
Nguyen, T. (2020). Gamification and Formal Practice: A Pilot Study on Gamification’s Contributions to Early Childhood Student Teachers’ Musical Practice. In Ø.J. Eiksund, E. Angelo, & J. Knigge, (Hg.). Music Technology in Education – Channeling and Challenging Perspectives, Cappelen Damm Akademisk (S. 103–129) Online verfügbar unter https://press.nordicopenaccess.no/index.php/noasp/catalog/book/108 [Zugriff am 26.08.2022].
Rodriguez, R. C. (2019). Rocksmith all night: Technology-mediated guitar learning in an online affinity space, Ph.D. dissertation, San Antonio, TX: University of Texas.
Rolle, C. (1999). Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse. Kassel: Gustav Bosse Verlag.
Small, C. (2011). Musicking: The Meanings of Performing and Listening. Middletown: Wesleyan University Press.

Marc Godau
Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Bismarckstraße 10
76133 Karlsruhe
Deutschland
E-Mail: marc.godau@ph-karlsruhe.de
Forschungsschwerpunkte: Technologievermitteltes Musiklernen und ästhetische Erfahrung in formalen und informellen Kontexten, (Post-)Digitalität in der Musikpädagogik, Didaktik der Populären Musik, Soziomaterialität musikalischer Lern- und Bildungsprozesse & Professionalisierung von Musikpädagog:innen

[1] https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1183 [Zugriff am 04.10.2022].
[2] https://gegenwaerts.com/musik-als-videospiel/ [Zugriff am 04.10.2022].
[3] https://www.ubisoft.com/de-de/game/rocksmith/plus?isSso=true&refreshStatus=noLoginData [Zugriff am 04.10.2022].