Reitinger, Renate
Musik erfinden
Kompositionen von Kindern als Ausdruck ihres musikalischen Vorstellungsvermögens
Das seit einigen Jahren hochaktuelle Thema Kompositionspädagogik steht im Zentrum der Untersuchung von Renate Reitinger, Professorin für Musikpädagogik an der Musikhochschule Nürnberg-Augsburg. Anders jedoch als vergleichbare Veröffentlichungen leistet die Autorin einen spannenden Spagat zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Kunst, indem sie in den zwei Teilen ihres Buchs einerseits musikalische Erfindungen von 5- bis 6-jährigen Kindern auf das zugrunde liegende Vorstellungsvermögen hin analysiert, andererseits konkrete Anregungen zum Komponieren mit Kindern im Vor- und Grundschulalter vermittelt.
Man erfährt viel in dieser weit gefächerten entwicklungspsychologischen und kompositionspraktischen Studie, deren wissenschaftlicher erster Teil auf eine Erweiterung bestehender Forschungsansätze zur musikalischen Entwicklung zielt: Angesprochen werden der Begriff der Vorstellung und der „Repräsentation“ allgemein und musikalisch; die Entwicklung des Vorstellungsvermögens im Kindesalter nach Jean Piaget und Daniel Stern; Theorien zur musikalischen Entwicklung und deren Bedeutung für das Vorstellungsvermögen als „produktive Fähigkeit des Individuums“ u. v. m.
Dies bildet das Fundament für die wissenschaftliche Untersuchung von zwanzig, u. a. an den Musikschulen Hamburg und Nürnberg entstandenen, in eigener Notation und in Transkript dokumentierten Kinderkompositionen, die nach phänomenologisch-hermeneutischer Methode beschrieben, analysiert und ausgewertet werden. Eine kurze abschließende Diskussion und Theoriebildung kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder auf der Basis körperlich-motorischer Erfahrungen ein strukturbildendes musikalisches Vorstellungsvermögen besitzen, das sich kompositorisch in der Verknüpfung von Sinneinheiten nach Gestaltungsprinzipien unserer Musikkultur – Motivbildung, Wiederholung, Variation, Kontrast, Verdichtung, Steigerung, Beruhigung etc. – widerspiegelt, die nach Stern bereits die präverbalen Vorstellungs- und Äußerungsformen prägen.
Dieses Ergebnis schließt ebenso eine Lücke bislang vornehmlich rezeptiv oder an höheren Altersstufen orientierter Forschung wie es praktisch ermutigend ist, bedeutet es doch, dass die produktiven Fähigkeiten von Kindern viel mehr entfaltet werden könnten. Mut zum Komponieren von Anfang an lautet die Devise: Musik erfinden macht Spaß und Sinn, fördert Kinder in ihrer gesamten Persönlichkeit und gibt Auskunft über ihre früh entwickelte Erfindungskraft und schöpferische Fantasie.
Gleichwohl stellen sich einige kritische Fragen wie z. B.: Wenn die Kinder bereits ein Jahr die Musikalische Früherziehung besucht haben, wäre es für die Versuchsanordnung nicht wichtig zu wissen, was und wie sie dort gelernt haben? Wie ging das von der Verfasserin moderierte Reflektieren des Erfindungsprozesses vor sich? Ist der Eindruck von Stimmigkeit und Geschlossenheit der kurzen Erfindungen bei aller Kriterienbildung womöglich selbst eine Projektion und Produktion von Struktur-Sinn? Die Anmutung von Ordnung und Stimmigkeit muss, trotz Notation, nicht unbedingt Rückschlüsse auf aktives Vorstellungsvermögen erlauben, sondern kann durchaus auch, wie ältere Ansätze (Cage) und neuere Untersuchungen (Welsch) zeigen, der produktiven Wirkungskraft des Zufalls geschuldet sein. Und wird bei der Frage nach dem „Vorstellungsinhalt Musik“ der wohl gängigste Topos von Musik als Gefühlssprache – wie die Dimension emotionalen Ausdrucks in den Kinderproduktionen insgesamt – kognitionspsychologisch bewusst ausgespart?
So wirft Renate Reitingers interessante und innovative Studie in ihrem wissenschaftlichen Teil mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermag, und gibt in ihrem kurzen zweiten Teil mehr Anregungen und Themenvorschläge zur Methodik und Didaktik des Komponierens mit Kindern, als zwei Buchdeckel zu fassen vermögen. Dieser wissenschaftlich-praktische Mehrwert macht die Qualität des sehr empfehlenswerten Buchs aus, das jeder Elementar-, Instrumental- und Musikpädagoge lesen, lustvoll erproben und so kreativ weiterentwickeln sollte, wie es ihm bzw. ihr in die Wiege gelegt ist.
Wolfgang Rüdiger