Doerne, Andreas

Musik im Augenblick

Achtsamkeit und ihr Potenzial zur Förderung von Wahrnehmung und Präsenz im künstlerischen Handeln

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2015 , Seite 06

Achtsamkeit ist mehr als ein psychologischer Modebegriff oder eine ­pädagogisch nutzbare Aufmerksam­keitstechnik. Sie führt direkt ins Herz von sowohl künstlerischer Tätigkeit als auch ästhetischer Bildung. Und sie verhilft gerade Musizierenden zu einer Präsenz, ohne die kein inspiriertes und inspirierendes Musik­machen auskommt.1

Achtsamkeit, so könnte man meinen, ist etwas Altbekanntes. Als Schüler wurde man von Lehrern in der Schule zur Aufmerksamkeit auf den Unterricht ermahnt, als Tennisadeptin vom Trainer zur ausschließlichen ­Fokussierung des Balls, als Musikschulschüler von der ­Instrumentallehrerin zum genauen Hinhören auf falsche Töne, eine schlampige Intonation oder unschöne Klanggebung. Der immer ein wenig mit innerpsychischem Zwang einhergehende Imperativ „Gib acht!“ beziehungs­weise „Konzentriere dich!“, egal ob als Fremd- oder Selbstanweisung, begleitet die meisten Menschen seit Kindesbeinen an durch ihr Leben und prägt Bildungsbiografien wie kaum eine andere Formel. Das willentliche Bemühen um Aufmerksamkeit hat sich fest in die kollektive Lern-DNA von Generationen eingeschrieben.
Der Punkt jedoch ist: All dies hat wenig zu tun mit jener aus der buddhistischen Lehre des Satipatthana stammenden Idee und ­Praxis von Achtsamkeit, die in pragmatisch-­säkularer Form seit einigen Jahren im Westen eine exponentiell steigende Verbreitung findet.2 Der buddhistische Mönch Nyanaponika schreibt: „Immer wieder wird also der Mensch vor Situationen stehen, wo er nicht erzwingen kann, was er wünscht. Doch es gibt Wege, auf denen sich die Widerstände um und in uns ohne Zwang, durch gewalt­lose Mittel, überwinden lassen. Sie haben oft Erfolg, wo gewaltsames Vorgehen versagt. Solch ein Weg zwangfreier Lebensmeisterung und Geistesschulung ist Satipatthana, der Weg rechter Achtsamkeit. In der methodischen Anwendung des reinen Beobachtens und auch des wissensklaren Handelns werden sich allmählich die ungenutzten Möglichkeiten einer zwangfreien Lebens- und Geisteshaltung voll entfalten und ihre überraschend weitreichenden, segensreichen Auswirkungen offenbaren.“3
Beschäftigt man sich mit Achtsamkeit, ist es daher zunächst hilfreich, sie von jenem bestens bekannten Vorgang der Konzentration zu unterscheiden. Denn obwohl beide eine Form von Aufmerksamkeitssteuerung darstellen, sind sie ihrem Wesen nach doch grundverschieden. Folgende Gegensätze von Achtsamkeit und Konzentration sind mir im Laufe meines Literaturstudiums und meiner eigenen Achtsamkeitspraxis aufgefallen:
– Achtsamkeit akzeptiert ausnahmslos alles, was ihr begegnet. Konzentration wählt aus und unterscheidet in erwünscht und unerwünscht.
– Achtsamkeit ist eine das Bewusstsein öffnende, weil nicht-selektive Form von Aufmerksamkeit. Konzentration ist eine das Bewusstsein fokussierende, weil selektive Form von Aufmerksamkeit.
– Achtsamkeit ereignet sich im Modus gelassenen Seins. Konzentration ereignet sich im Modus willentlichen Handelns.
– Achtsamkeit braucht Loslassen. Konzentration braucht Anstrengung.
– Achtsamkeit braucht Nähe und Liebe. Konzentration braucht Distanz und Neutralität.
– Achtsamkeit beobachtet. Konzentration ergreift.
– Achtsamkeit ist geduldig. Konzentration treibt an.
– Achtsamkeit lässt die Wahrnehmungsobjekte sich voll­ständig aussprechen. Konzent­ration hört an den Äußerungen eines Wahrnehmungsobjekts nur jenen Teil, den zu hören sie sich vorgenommen hat.
– In Achtsamkeit verliert sich das Ich ans Wahrnehmungs­objekt. In Konzentration verleibt sich das Ich das Wahrnehmungsobjekt ein.
– Achtsamkeit sensibilisiert die Sinneswahrnehmung um ihrer selbst willen. Konzentra­tion schult die kognitive Verarbeitung von Sinnesinformationen.
Auch folgendes bemerkenswerte Zitat von Renate Klöppel deutet darauf hin, dass eine konzentrative Aufmerksamkeitssteuerung Probleme mit sich bringen kann und mitunter durch eine andere Aufmerksamkeitsstrategie ergänzt oder sogar ersetzt werden muss: „Das Dilemma, dass der Gedanke ‚ich will mich konzentrieren‘ bereits von dem eigentlich gewählten Gegenstand der Kon­zent­ra­tion ablenkt, macht Konzentration zu einem Vexierbild, das sein Geheimnis nicht entdecken lässt, wenn sinnlose Anstrengung das Wesentliche verbirgt. Konzent­ration tritt dann von selbst auf, wenn das Objekt der Konzentration fasziniert […] Sehr vieles beim Musizieren geht tatsächlich in auffälliger Weise leichter ohne verbissene Kontrolle, Anstrengung und Anspannung.“4

Gewahrsein, Präsenz, ­Beobachterperspektive

Bei Idee und Praxis von Achtsamkeit geht es im Kern um die Qualität der Wahrnehmung, es geht um die Verankerung des Bewusstseins in der Gegenwart, der Präsenz des ganzen Menschen im Hier und Jetzt, und es geht um eine Loslösung von einem Übermaß an Identifikation mit dem eigenen Denken, Wollen und Begehren, dem vielfältigen innergeistigen Verstricktsein in Bewertungen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Vorstellungen jeglicher Art, die den Blick auf das Sosein der Welt und ihrer Phänomene vernebeln. Gewahrsein, Präsenz und Beobachterperspektive sind – in größtmöglicher Kürze – jene drei Schlagwörter zum Begriff der Achtsamkeit, die diese Praxis am treffendsten charakterisieren. Nimmt man alle drei zur Richtschnur eigener Achtsamkeitsübung, wandelt sich Achtsamkeit von einer bloßen Aufmerksamkeitstechnik hin zu einer umfassenden (Lebens-) Haltung, die mit der Zeit alle Handlungen grundiert, durchdringt und erfüllt. Stellt sich die Frage, was das alles mit Musik bzw. dem Musizieren zu tun hat…

1 Interessierten Leserinnen und Lesern, die sich näher mit dem für jegliche Kunstausübung überaus frucht­baren Thema der Achtsamkeit beschäftigen möchten, empfehle ich vor allem zwei Bücher: Zum einen die Schrift des deutschstämmigen Mönchs Nyanaponika Mahathera, Geistestraining durch Achtsamkeit (Konstanz 1989), die sich aus Sicht der buddhistischen Tradition auf tiefgründige und gleichzeitig verständliche Art und Weise des Themas annimmt (auch frei verfügbar im Internet unter www.palikanon.com/diverses/satipatthana/satipattana.html), sowie eine neuere Publikation des amerikanischen Biologen und Begründers der ers­ten psychosomatischen Klinik für die Behandlung von Stresserkrankungen durch Übung von Achtsamkeit Jon Kabat-Zinn, Zur Besinnung kommen (Freiamt 2006), in der er auf hervorragende Art und Weise einen westlich-pragmatischen Zugang zum Feld der Achtsamkeit vorstellt, der für jeden Menschen – unabhängig von seiner religiösen oder weltanschaulichen Orientierung – von Nutzen sein kann. Nicht zuletzt möchte ich einen Aufsatz des emeritierten Erziehungswissenschaftlers Horst Rumpf empfehlen, der mich seit Jahren begleitet und immer wieder aufs Neue zum Nachdenken anregt: „Die andere Aufmerksamkeit. Über ästhetische Erziehung im Zeitalter der Weltbewältigung“ (in: Frauke Grimmer/Wolfgang Lessing (Hg.): Künstler als Pädagogen, Mainz 2008, S. 11-24). Darin bringt der Autor das Kunststück fertig, Achtsamkeit und Gewahrsein treffend zu beschreiben, ohne auch nur einmal einen der beiden Begriffe zu verwenden.
2 vgl. Statistiken zur Anzahl veröffentlichter Fachartikel zum Thema Achtsamkeit in den vergangenen Jahren, z. B. in Mark Williams/Jon Kabat-Zinn et al.: Achtsamkeit. Ihre Wurzeln, ihre Früchte, Freiburg 2013, S. 10 und S. 382.
3 Nyanaponika Mahathera: Geistestraining durch Achtsamkeit, ­Konstanz 1989, S. 121.
4 Renate Klöppel: Die Kunst des Musizierens, Mainz 1993, S. 121.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2015.