Willimek, Bernd / Daniela Willimek

Musik und Emotionen

Studien zur Strebetendenz-Theorie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: DWV, Baden-Baden 2019
erschienen in: üben & musizieren 6/2019 , Seite 53

Bernd und Daniela Willimek umschreiben die von ihnen entwickelte „Strebetendenz-Theorie“ mit den Worten: „Sie bietet ein Erklärungsmodell für die emotionale Wirkung musikalischer Harmonien und formuliert eine Zusammenstellung von emotionalen Charakteren musikalischer Harmonien.“ Die Grundaussage ihrer Theorie lautet: „Durch Musik vermittelte oder hervorgerufene Emotionen wie etwa Wut, Trauer, Einsamkeit oder Sehnsucht lassen sich auf Identifikationen mit abstrakten Willens­inhalten zurückführen und durch Identifikationen mit abstrakten Willensinhalten erklären. Im Umkehrschluss lassen sich Emotionen, die nicht auf abstrakte Willensinhalte zurückgeführt werden können, wie beispielsweise Neid, Eifersucht, Hass, Verlegenheit, Langeweile, Mitleid, Verachtung, Scham oder Ekel, auch nicht musikalisch vermitteln oder hervorrufen.“
Zwar erläutern die AutorInnen ihre Grundaussage mit durchaus überzeugenden Beispielen und Versuchsanordnungen mit ProbandInnen, doch lassen sich umstandslos Gegenbeispiele anführen: Ein „Eifersuchtsduett“ gestaltet Kurt Weill drastisch in der Dreigroschenoper und „Langeweile“ macht er etwa im „Benares-Song“ aus dem Mahagonny-Songspiel unmittelbar spürbar. Keinesfalls aber sollte man vorschnell-bedenkenlos die abwägenden Ausführungen unter den notorisch gutgemeinten, aber immer auch (trotz aller Zitate aus Schriften „bedeutender“ Autoren) ein wenig amateurhaften Theorien ablegen. Der Überblick über die emotionalen „Charaktere von Harmonien“ etwa, den die AutorInnen geben, ist durchaus nützlich und in vielerlei Hinsicht ebenso bedenkenswert wie ihre Diskussionen von 159 Beispielen aus vielen Genres.
Freilich verknüpft sich auch in „Emotionen“, die aus einem „abstrakten Willensinhalt“ hervorgehen, ein kaum aufzugliederndes, sinnvoll zu entwirrendes Bündel von Gefühlen, sodass etwa in „Eifersucht“ (fast) immer auch „Wut“ spürbar bleibt. Und „Einsamkeit“ kann sich in sehr vielen Schattierungen ausdrücken, der etwa „Scham“ oder „Verachtung“ beigemischt sein mögen. Ebenso ist die Wirkung von Harmonien in erklingender Musik von einer Vielzahl von Faktoren abhängig (Lage, ­Instrumentierung, Dynamik, Artikulation, Kontext usw.), die wohl voneinander unterschieden werden können, aber nicht voneinander zu trennen sind, sodass es schwerfällt, den Harmonien einen emotionalen Gehalt „an sich“ zuzusprechen.
Die AutorInnen besprechen etwa die Wirkung des Tristan-Akkords, aber den um einen Halbton höher transponierten Tristan-Akkord, den Beethoven (1. Satz, T. 36) in der von ihnen herangezogenen Klaviersonate op. 31 Nr. 3 antizipiert, lassen sie leider unkommentiert oder haben ihn übersehen. Verständlicherweise klammern sie auch die komplexen Fragen von harmonisch-emotionaler Wirkung in atonaler Musik aus. Aber stimulierend wirkt ihre Arbeit allemal.
Giselher Schubert