Blumröder, Christoph von / Wolfram Steinbeck (Hg.)

Musik und Verstehen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Laaber, Laaber 2004
erschienen in: üben & musizieren 4/2006 , Seite 66

Diese Sammelpublikation vereinigt Beiträge, die 2003 auf einem hochkarätig besetzten Symposion an der Universität Köln vorgetragen wurden, ergänzt um Diskussionen im unmittelbaren Anschluss an die Vorträge. Mit dem Symposion wurde dem 1999 verstorbenen Freiburger Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht eine farbenreiche, qualitativ anspruchsvolle Reverenz erwiesen. Dessen posthum veröffentlichter Beitrag über „Musik und Analyse“ eröffnet die Beiträge und setzt auch gleich einen Akzent, der immer wieder anklingt, denn durchgängig wird musikalische Analyse als Königsweg zum Musikverstehen angesehen. Damit ist eine Position gekennzeichnet, der man auch kritisch begegnen muss.
In sieben Kapiteln geht es um Analyse und Hermeneutik, Sprechen über Musik an Beispielen von Schumann, Liszt und Wagner, Oper und Filmmusik, das 20. Jahrhundert (Verstehensprobleme mit der Neuen Musik), soziologische, psychologische und kognitive Aspekte des Musikverstehens, Ethnologie, Cultural Studies, Popularmusik sowie um Interpretation. Einleitend gibt Wolfram Steinbeck eine gut lesbare Einführung in die Thematik und skizziert den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionsstand. Dass anschließend dem Spiritus rector des Unternehmens posthum das Wort erteilt werden kann mit einem bis dato unveröffentlichten Text, ist ein Glücksfall. Das Postulat „Verstehen durch Analyse“ wurde richtungsweisend für mehr als eine Generation von Musikhistorikern.
Das zeigt sich bei den Beziehungen zwischen Analyse und Hermeneutik. Gernot Gruber zeichnet die Geschichte der musikalischen Analyse und ihrer hermeneutischen Konzepte nach, Siegfried Mauser reflektiert Grundprobleme einer Wahlverwandtschaft von Analyse und Hermeneutik, Stephen Hinton setzt sich mit der hierzulande vernachlässigten Schenker-Analyse auseinander und Wilhelm Seidel unternimmt den Versuch, die g-Moll-Ballade von Chopin analytisch zu beschreiben und mit Mut zur Subjektivität zu interpretieren.
Bei Oper und Film entstehen aus dem Zusammenwirken von Musik, Sprache und Visualisierungen ästhetische Gebilde, deren Deutung den Einbezug historischer Kontexte unabdingbar macht. Dies zeigt z. B. Albrecht Riethmüllers Beitrag über Luis Buñuels L’âge d’or. In diesem surrealistischen Kultfilm von 1930 bildet Musik von Mendelssohn, Mozart, Beethoven und Wagner offenbar Verstehenselemente, für die der Autor eine gewisse zeitgeschichtliche Plausibilität herstellt, die sich aber letztlich gegen ein Verstehen sperren.
Diese Nicht-Verstehbarkeit greift im 20. Jahrhundert weiter um sich, etwa bei Arnold Schönberg. Dessen Schüler Alban Berg hat schon 1924 vor der Frage, warum Schönbergs Musik so schwer verständlich sei, mehr oder weniger kapituliert. Die Verstehensproblematik vertieft sich, wie zu erwarten, bei Werken der Neuen Musik, bei mikrotonalen und elektronischen Kompositionen und bei der Musique concrète.
Aus soziologischer Blickrichtung können lediglich Rudimente der Musikanalyse, über die kognitive Informationsverarbeitung und eine naturalisierte Hermeneutik zusammengetragen werden, die aber für ein Verständnis der Musik kaum brauchbar sind. Die ethnomusikologischen Beiträge sensibilisieren gegenüber eurozentrischen Betrachtungsweisen, sie reiben sich an der Spannung zwischen eigenen und fremden Kulturen.
Historische Aufführungspraxis und wechselnde Aufführungsstile in der Gegenwart können Teilaspekte plausibel machen. Freilich, Hermann Danusers „Lob der Torheit. Vom Nicht- und Missverstehen bei ästhetischer Erfahrung“ bringt ein generelles Problem auf den Punkt. Denn er weist nach (an Beethovens Opus 111 bis in die Gegenwart), „dass bewährte Verfahren der musikalischen Analyse und ihre Einlösung für das Verstehen hier an Grenzen stoßen, wenn nicht vom Scheitern bedroht sind“. Danuser zeigt, dass die Mittel der musikalischen Analyse bei weitem nicht ausreichen, um Musik verstehen zu können. Bei jeglicher Kunst von Rang bleibt ein Rest, der nicht entschlüsselbar ist. Danach könnte Musikverstehen auch ein Missverständnis genannt werden, bestenfalls ein Konstrukt, das der Kunstmusik des 18. und 19. Jahrhunderts angemessen ist.
Günter Kleinen