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Gutzeit, Reinhart von

Musikalische Familien­angelegenheiten

Im Biotop einer musikbegeisterten Familie sprießen musikalische Talente heran – nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2018 , Seite 06

Dieser Beitrag ist eine „Familien­angelegenheit“ in mehrfachem Sinn. Im Kern geht es um die Rolle, die die Familie bei der Entwicklung und Heranreifung ­besonderer musika­lischer Talente spielt, spielen kann, spielen darf. Dabei soll auch ein Blick auf einige prominente Beispiele in Geschichte und Gegen­wart gelenkt werden. Auch die eigene Familie des Autors mit fünf intensiv musizierenden Kindern spielt im Hintergrund dieser Überlegungen keine geringe Rolle.

Es ist die erste und wahrscheinlich gewichtigste Schicksalsfrage: die, in welche Familie ein Kind hineingeboren wird. Wer gehört zu mir? Welche Personen mit welchen Eigen­schaften? Was bringen sie mit – an Traditionen, an Bildung und Erfahrungen, an Erwartungen, an Hab und Gut? Wie lebt meine Fami­lie? Was gelten für Gesetze, was ist wichtig, was verpönt? Wie gehen wir miteinander um? Mit einem kaum überschaubaren Gemisch von Einflussfaktoren drückt die Familie dem Kind ihren Stempel auf. Und es sind nicht nur „hard facts“, die diese Wirkung ausmachen, es ist auch ein schwer zu beschreibendes Phänomen wie das „Familienklima“.
„Erziehung ist Atmosphäre – sonst nichts“, hatte meine Mutter auf einem Zettel notiert, den ich in ihrem Nachlass fand. Ein faszinierender Gedanke, von dem ich nicht weiß, ob sie selbst oder jemand anderer der Urheber war. Ein starkes musikalisches Engagement prägt die Atmosphäre einer Familie in besonderer Weise und so steht im Hintergrund der folgenden Überlegungen die These, dass eine in besonderer Weise auf Musik fixierte Familie ihre Mitglieder noch deutlich mehr beeinflusst, lenkt, inspiriert und vielleicht auch unter Druck setzt, als Familien es grundsätzlich tun. Was „macht“ die musikbegeisterte Fami­lie mit ihren Kindern?

Erbe oder Umwelt?

Zu Beginn drängt sich die uralte Frage auf: Erbe oder Umwelt? Wird eine musikalische Familie dadurch konstituiert, dass ein Begabungs-Gen weitergegeben wird, welches für musikalische Aufnahmebereitschaft und Leis­tungsfähigkeit sorgt und schließlich dafür, dass Musik für alle oder die meisten Mitglieder einer Familie bedeutsam werden wird? Oder ist es vielmehr die in der Familie gepflegte Kultur des Umgangs mit Musik, die Interesse und Engagement hervorruft und da­mit eine Entwicklung auslöst, die irgendwann vielleicht als „überragende Begabung“ diagnostiziert und beschrieben werden wird?
In einem Biologiebuch, das wir in der Unterstufe des Gymnasiums verwendeten, war auf einer halben Seite der weitverzweigte Stamm­baum der Familie Bach abgebildet – als eindeutiges Beweisstück für die Durchschlagskraft der Vererbung. Der Autor übersah geflissentlich die Zweideutigkeit; dass nämlich dieser Stammbaum mit gleicher Berechtigung auch von einem Verfechter des Behaviorismus hätte ins Feld geführt werden können: waren doch die Mitglieder der Bach’schen Familie vom ersten Atemzug an von Musik umgeben, lebten von und für Musik. Ein markantes Beispiel dafür, wie sehr die Anhängerschaft an eine Denkschule und ihre Theoriegebäude zur massiven Einschränkung unserer Wahrnehmungsfähigkeit, zu einer Art von Verblendung führen kann.
Die Frage, ob auf dem Gebiet der Musik dem einen oder dem anderen der Entwicklungsimpulse Erbe und Umwelt ein größeres Gewicht beizumessen sei, ist durch empirische Forschung kaum zu beantworten, weil die Grundvoraussetzung, die voneinander unabhängige Betrachtung beider Einflussfaktoren, schlichtweg unerfüllbar ist.* Aus musikpädagogischer Sicht gibt es wenig Grund, diese Erkenntnisbegrenzung zu bedauern. Denn welche Konsequenzen sollte es haben, wenn eine quantitative Bestimmung möglich wäre?
Viel wesentlicher erscheinen vor allem zwei Einsichten, die sich durch Offenkundigkeit auf­drängen: Zum einen, dass beide Faktoren unabdingbar sind, wenn es um die Entwicklung „höherer Fähigkeiten“ geht; dass größte Begabung ohne musikaffine Umwelt nicht zur Entwicklung kommen, ja wahrscheinlich nicht einmal erkannt werden wird – wie auch umgekehrt bestmögliche Förderung ohne die Voraussetzung guter Veranlagung keine besonderen Ergebnisse zu erreichen vermag. Zum anderen und in unserem Zusammenhang besonders wichtig: dass Familie der Schmelztiegel schlechthin ist, wo genetische Veranlagung und fördernde Einflüsse zusammenfließen und sich unter günstigen Um­stän­den so sehr verstärken und potenzieren, dass Entwicklungen möglich werden, die sich in er­staunlichem Maß von der „Norm“ abheben.
In diesem Sinne lassen sich beim Gang durch die Musikgeschichte die Namen von zahl­losen Geschwistern zusammentragen, deren musikalische Entwicklung untrennbar mit den im höchsten Maß prägenden Ansprüchen ihrer jeweiligen Familie verbunden sind: Johann Sebastian Bachs Söhne Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Friedrich und Johann Christian; Wolfgang Amadeus und Maria Anna (Nannerl) Mozart; Felix und Fanny Mendelssohn Bartholdy, um nur die drei überragenden Fami­lien zu nennen, deren Kinder mit Ausnahme von Johann Christoph Friedrich Bach allesamt als Instrumentalisten und Komponisten hervorgetreten sind. Allein die Betrachtung dieser drei Familien böte Stoff für ein umfangreiches Buch. Dabei wäre unter anderem interessant zu untersuchen, wie die Bach-Söhne sich zu so bedeutenden, aber höchst unterschiedlich orientierten und ausgeprägten Kom­ponistenpersönlichkeiten entwickeln konnten. Auf Vielfalt statt auf Normierung abzuzielen, ist eine Forderung an musizierende Familien, die später noch ausführlicher behandelt wird.

Stellt man Licht- und Schattenseiten nebeneinander, so wird schnell deutlich, dass die musikalische Förderung durch die Familie unersetzbar ist.

Aus jüngerer Zeit treten vor allem die Namen von Geschwistern ins Bild, die als Interpreten bedeutende Rollen in der Musikwelt spielten und spielen: Yehudi und Hephzibah (auch Yal­tah) Menuhin, Sabine und Wolfgang Meyer, das Hagen Quartett, das Schumann Quartett, Carolin und Jörg Widmann, Renaud und Gautier Capuçon, Nicolas und Christoph Altstaedt, die Gerassimez-Brüder Wassily, Nikolai und Alexej; Arthur und Lukas Jussen, Christian und Wolfgang Muthspiel…
Eine Liste, die sich nach Belieben verlängern lässt und die schließlich zu einer in die Tausende gehenden Zahl von jungen Nachwuchs­musikerInnen führt, die uns Jahr für Jahr beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ begegnen und die belegt, in welch hohem Maße das Musizieren eine Familienangelegenheit ist.

Ehrgeiz der Eltern oder kindliche Neugier?

Aber wie kommt es zur Entfaltung dieser starken Wirkung des „Leistungs- und Motivationsfaktors Familie“? Wenn in einem musikbeflissenen Elternhaus alle Kinder ein Instrument spielen, regelmäßig üben, miteinander musizieren und sich Schritt für Schritt von Anfängern zu „jungen Musikern“ entwickeln, stehen sie für viele Außenstehende unter einem Generalverdacht: Geschieht das alles frei­willig? „Jugend musiziert“-Preisträger kön­nen ein Lied davon singen: Wenn sie vom Bundeswettbewerb nach Hause kommen und von den Medien zum Gespräch gebeten werden, sind mit größter Wahrscheinlichkeit zwei Fragen zu erwarten: „Wie viel übst du denn?“, und mehr oder weniger unterschwellig gefragt: „Machst du das eigentlich gerne?“ Eine Frage, mit der eine erfolgreiche junge Sportlerin kaum zu rechnen hätte!

* Auch die in solchen Fällen genutzte Methode der ­Zwillingsforschung dürfte mangels geeigneter Unter­suchungsobjekte (Personen mit den relevanten hochspezifischen Eigenschaften) keinen sinnvollen Ansatz bieten.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2018.