Hayward, Klara

Musikalische Mündigkeit

Eine bestimmte Qualität im Erleben des eigenen Selbst beim Musizieren

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2022
erschienen in: üben & musizieren.research 2022

 

Auf der Suche nach einer bestimmten Qualität im Erleben des Selbst

Entwurf eines neuen Verständnisses musikalischer Mündigkeit


Rezension zu:
Hayward, Klara (2022): Musikalische Mündigkeit. Eine bestimmte Qualität im Erleben des eigenen Selbst beim Musizieren. Münster, New York: Waxmann. 202 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3-8309-4582-6

Rezensentin: Karolin Schmitt-Weidmann
Rezension veröffentlicht am: 08.11.2022

Was bedeutet es, musikalische Mündigkeit zu erleben oder musikalisch mündig zu handeln? Wie lässt sich Mündigkeit mit Selbstbestimmung auf der einen und gemeinsamem musikalischem Agieren auf der anderen Seite vereinbaren? Vor dem Hintergrund vorhandener bildungsphilosophisch geprägter Mündigkeitsverständnisse entwirft Klara Hayward mit ihrer Dissertationsschrift eine Konzeption musikalischer Mündigkeit aus psychologischer Perspektive. Dabei wird das Erleben musikalischer Mündigkeit als selbstbestimmtes, persönlich bedeutungsvolles sowie gemeinsames Gestalten gefasst, welches auch in seinen Implikationen für die Musizierpädagogik diskutiert wird.

1. Ein alter Begriff neu beleuchtet

Die Verwendung des Begriffs der Mündigkeit als Leitidee für Bildung weist in bildungsphilosophischen und erziehungswissenschaftlichen Diskursen – insbesondere seit Kants Denkfigur der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (1784, zitiert in Hayward, 2022, S. 11) – eine lange Tradition auf, die ihren Höhepunkt in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr (vgl. ebd., S. 9). Auch wenn Mündigkeit sich im Detail schwer greifen lässt, ist das Streben nach Mündigkeit nach wie vor aktuell und von einem positiv konnotierten Pathos bzw. einem moralisch-ethischen Anspruch in unserer Gesellschaft umgeben (vgl. ebd. S. 9-11). Hayward fasst in diesem Kontext musikalische Mündigkeit – wie der Untertitel ihrer Schrift bereits andeutet – als eine bestimmte Qualität im Erleben des eigenen Selbst beim Musizieren, die letztlich unverfügbar bleibt und deren Eintritt von günstigen Konstellationen zwischen äußeren und inneren Faktoren abhängt:

„Diese Qualität entsteht potenziell als Resultat der Wechselwirkung des sozialen Kontextes, in den das Musizieren eingebettet ist, der Musik selbst und den Voraussetzungen der musizierenden Person. Diese Qualität kann sich also je nach den gegebenen Bedingungen und der Wahrnehmung dieser Bedingungen durch die musizierende Person einstellen oder auch nicht. Es liegt nicht an der handelnden Person selbst, musikalische Mündigkeit ausschließlich aus eigener Kraft herbeizuführen.” (ebd., S. 12)

Die Qualität im Erleben des eigenen Selbst wird nach Hayward erstens über erlebte Selbstbestimmung definiert, i. e. „das Gefühl, selbstbestimmt ohne jeglichen verspürten Druck von außen seiner Musiziertätigkeit nachgehen zu können“ (ebd., S. 12), zweitens über wahrgenommene Kompetenz in Verbindung mit einer optimalen Passung zwischen Herausforderungen und Fähigkeiten und dem Gefühl von (Selbst-)Sicherheit. Drittens kommt eine empfundene Urheberschaft in Form der Verantwortung für die eigenen musikalischen Handlungen und Gestaltungsmöglichkeiten hinzu, die Transformationsprozesse initiiert und persönliche Bedeutsamkeit generiert. Das Erleben von Mündigkeit wird dabei zwar nicht ursächlich, aber maßgeblich durch einen guten zwischenmenschlichen Umgang im verantwortungsbewussten Miteinander sowie die gewissenhafte Gestaltung der sozialen Kontexte als Räume ästhetischer Offenheit geprägt.

Diese prägnant zu Anfang der Abhandlung formulierten Gravitationszentren des Konzepts der Mündigkeit öffnen dem Leser gleichzeitig die Weite des Begriffsfelds und bilden die Brücke und Legitimation zu der von Hayward hinzugezogenen psychologischen Perspektive: Hayward leitet ihr Konzept der Mündigkeit aus zwei psychologischen Theorien, i. e. der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (u. a. 2002) und der Theorie des Übergangsobjekts von Winnicott (1974/2010) sowie dessen Übertragung durch Figdor & Röbke (2008) her, die den Aufbau ihrer Arbeit strukturieren. Die Fokussierung auf gerade diese beiden Theorien erscheint zwar nicht zwingend, aber als erster Ausgangspunkt überzeugend und schlüssig. Die Möglichkeiten zur Öffnung des Diskurses werden somit nicht erschöpft, sondern vielmehr exemplarisch anhand zweier Theorien durch eine fundierte empirische Herangehensweise begonnen.

Nach der Einleitung (Kapitel 1) und Einführung in den bildungsphilosophischen Diskurs (Kapitel 2.1) zum Begriff der Mündigkeit und der daraus hergeleiteten Begründung der Hinzunahme einer psychologischen Perspektive (Kapitel 2.2) widmen sich die umfangreichen Kapitel 3 und 4 den beiden genannten Theorien. Die hermeneutisch hergestellte Verbindung und Weiterentwicklung dieser Ansätze aus unterschiedlichen Fachdisziplinen in Bezug auf den Begriff der Mündigkeit stellt das Alleinstellungsmerkmal von Haywards Ansatz dar, indem sie beide Diskurse nutzt, um zu einem neuen Konzept musikalischer Mündigkeit zu gelangen. Grundlagen, Motivationsarten, Voraussetzungen für Mündigkeit und Kausalorientierungen werden dabei zunächst insbesondere anhand förderlicher Faktoren für verschiedene Formen von Motivation sowie Internalisierungsprozesse in Anlehnung an Deci und Ryan entwickelt (Kapitel 3), bevor Winnicotts Theorie der Übergangsobjekte eingeführt und auf Musizierpraktiken übertragen wird (Kapitel 4). Dabei werden Letztere als Übergangsphänomene bzw. ein konkretes Musikstück im Kontext des Musizierens als Übergangsobjekt betrachtet (vgl. insbesondere Kapitel 4.2.2).[1] Der Akt der Erschaffung eines musikalischen Übergangsobjekts vollzieht sich im Rahmen eines Verschmelzungsprozesses zwischen innerem und äußerem Objekt bzw. zwischen Selbst, Welt und Musik, das mehr als die Summe beider Realitäten darstellt. Eine besondere Stärke der Schrift zeigt sich in der Tatsache, dass Hayward sich auf verschiedene Umgangsformen mit Musik als lebenslange Schaffensprozesse von Übergangsobjektserien (sowie deren Brüche) konzentriert und diese detailliert auffächert (Kapitel 5.2): Somit werden neben dem Hören das Spielen von Musik, das Reflektieren von Musik und das Erfinden von Musik sowie deren Mischformen beleuchtet. Der zentrale Aspekt der Selbstbestimmung bedarf dabei nach Hayward eines Spielraums im eigenen und gemeinsamen Gestalten von musikalischen Übergangsobjekten sowie einer ästhetisch offenen Umgebung (Kapitel 5.3). Als Quelle für Handlungsimpulse, Anlass zu Weiterentwicklung sowie zu persönlichen Transformationsprozessen kann erlebte musikalische Mündigkeit vor dem Hintergrund von Haywards Ausführungen schließlich als ein wesentliches Element von Bildung angesehen werden.

Die in Kapitel 5 vorgelegte Weiterentwicklung des Konzepts musikalischer Mündigkeit nimmt zwar verhältnismäßig wenig Raum ein. Die zuvor umfangreich dargestellten und diskutierten Theorien Deci und Ryans sowie Winnicotts (Kapitel 3 und 4) verleihen Haywards Konzept musikalischer Mündigkeit aber eine Grundierung, die ihre prägnant dargestellte Weiterentwicklung in Kapitel 5 in sich ausgereift und abgerundet erscheinen lässt. An vielen Stellen befinden sich spannende und erkenntnisreiche Informationen und Ausführungen in den sowohl in Länge als auch in Anzahl umfangreichen Fußnoten, die den Wunsch nach Eingliederung in den Textkörper entstehen lassen. Trotz dieses den Lesefluss zeitweilig unterbrechenden Details, das dem Inhalt des Buchs jedoch in keiner Weise Abbruch tut, handelt es sich hier um eine sehr lesenswerte Lektüre, die weitreichende Perspektiven zu öffnen vermag.

2. Forschungstheoretischer Ausblick

Mündigkeit, Selbstbestimmung, musikalisches Erleben, Unverfügbarkeit, Verantwortung, Flow – diese zentralen begrifflichen Achsen dieses Buchs reihen sich in Denkfiguren und Schlüsselbegriffe prominenter bildungstheoretischer und kunstästhetischer Diskurse ein: Hartmut Rosas Begriff der „Resonanz“ (2021), Martin Seels Betrachtung des „Erscheinens“ (2003/2007), Hans Ulrich Gumbrechts Ausführungen zur „Präsenz“ des Erlebens (2012) sowie der Diskurs rund um die Begriffsbestimmung der „Ästhetischen Erfahrung“ (Rolle, 1999; Schmitt-Weidmann, 2021) weisen ähnlich zu Haywards Begriff der Mündigkeit eine normativ geprägte Auseinandersetzung mit Bezugsformen zwischen Selbst, Welt und Kunst auf, deren Vergleich aus bildungstheoretischer Perspektive geradezu nach weiterführenden transdisziplinären Auseinandersetzungen verlangt: Haywards Einbezug einer psychologischen Perspektive offenbart sich demnach als eine erste Öffnung, die eine Hinzunahme weiterer Fachdisziplinen – wie insbesondere Philosophie, Soziologie, Kunsttheorie etc. – geradezu einzufordern scheint. Themen wie selbstgesteuertes Lernen, informelles Lernen, transformative Bildungsprozesse, Körper als Medium u. v. m. werden bei Hayward (verständlicherweise) nur angerissen, aber nicht vertiefend diskutiert und kontextualisiert, sodass Hayward als wunderbare Referenzquelle und Ansatzpunkt für die zukünftige Weiterentwicklung des Begriffs der Mündigkeit in einschlägigen transdisziplinären Diskursen dienen kann.

3. Relevanz für die musizierpädagogische Praxis

Erlebte Mündigkeit kann die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse (i. e. die drei Bedürfnisse nach Kompetenz, nach sozialer Eingebundenheit und nach Selbstbestimmung, vgl. Ryan & Deci, 2002), das psychische Wohlergehen und schließlich auch die persönliche wie auch künstlerische Entwicklung von Musiker*innen fördern. Die Verbindung zum musizierpädagogischen Diskurs ergibt sich dabei aus dem normativen Anspruch des Mündigkeitskonzepts, das sich als „psychisches Wohlergehen“ manifestiert – ähnlich wie es auch dem eigenen Musizieren zugeschrieben wird (vgl. Hayward, 2022, S. 16). Damit rückt es in die Nähe von musizierpädagogischen Betrachtungen zum Thema „Musik und Glück“, „Musik und gutes bzw. gelingendes Leben“.[2] Hayward betont in diesem Zusammenhang das hohe Potenzial, das sie ihrer Theorie zuschreibt: „Eine Musikszene, die sich musikalischer Mündigkeit als pädagogischer Leitidee verpflichtet, leistet nicht nur einen Beitrag zum psychischen Wohlergehen der Musiker*innen, sondern fördert zugleich deren Entwicklung als Musiker*innen.“ (Hayward, 2022, S. 183) Aufgrund der Tatsache, dass Mündigkeit keine Fähigkeit ist, die erlernbar ist, kann das Konzept musikalischer Mündigkeit vor allem hinsichtlich begünstigender Faktoren – insbesondere unter Hinzunahme empirischer Forschungsmethoden – weiter erforscht werden. Mit Blick auf die Gestaltung von Umgebungen benennt Hayward zahlreiche mit den gerade genannten Grundbedürfnissen zusammenhängende Voraussetzungen, wie insbesondere das Gefühl von Sicherheit, Wertschätzung sowie Offenheit (Kapitel 5.4):

„Gerade für Lernende-Lehrende-Konstellationen, da es eine Hierarchie bezüglich der Kompetenz gibt – und besonders innerhalb von Institutionen, wo es zusätzlich noch ein strukturelles Machgefälle gibt –, ist es wichtig, dass die Lehrperson nicht das Bedürfnis nach sozialer Einbindung gegen das Bedürfnis nach Selbstbestimmung des Lernenden ausspielt. Eine im Sinne meines Konzepts musikalischer Mündigkeit qualitativ gute Einflussnahme besteht nie auf ihren Erfolg, denn nur so macht sie das Erleben von Selbstbestimmung während des Internalisierungsprozesses nicht zunichte.“ (Hayward, 2022, S. 188)

Vor diesem Hintergrund schlägt Hayward in ihrem Ausblick in Kapitel 6 eine Orientierung an und Weiterentwicklung von Andreas Doernes (2019) Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft vor, das bereits – ohne es zu benennen – als Verwirklichung des Konzepts musikalischer Mündigkeit angesehen werden kann.

Literaturverzeichnis
Bartels, D. (2018): Musikpraxis und ein gutes Leben. Welchen Wert haben ästhetische Konzeptionen eines guten Lebens für die Musikpädagogik (= Forum Musikpädagogik Band 146, Berliner Schriften). Augsburg: Wißner.
Bradler, K., Losert, M., Welte, A. (2015): Musizieren und Glück. Perspektiven der Musikpädagogik. Mainz: Schott.
Cook, N. (2001): „Theorizing Musical Meaning“. Music Theory Spectrum 2, 170–195.
Gumbrecht, H. U. (2012): Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2012.
Doerne, A. (2019): Musikschule neu erfinden: Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft. Mainz: Schott.
Figdor, H. & Röbke, P. (2008): Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog. Mainz: Schott.
Kant, I. (1784): „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. Berlinische Monatsschrift 12, 481–494.
Mahlert, U. (2011): Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Gesangsunterricht. Mainz: Schott.
Rolle, C. (1999): Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse. Kassel: Bosse.
Rosa, H. (2021): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Ryan R. M. & Deci, E. L. (2002): Handbook of Self-Determination Research. New York: University of Rochester Press.
Schmitt-Weidmann, K. (2021): Der Körper als Vermittler zwischen Musik und (all)täglicher Lebenswelt. Distanzauslotungen am Beispiel ausgewählter Werke der Neuen Musik. Bielefeld: transcript.
Seel, M. (2007): Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Seel, M. (2003): Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Vogt, J. (2002): „Allgemeine Pädagogik, ästhetische Erfahrung und das gute Leben. Ein Rückblick auf die Benner-Mollenhauer Kontroverse.“ Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik (ZfKM), Sonderedition 1: Musikpädagogik zwischen Bildungstheorie und Fachdidaktik, 1–19. Verfügbar unter: https://www.zfkm.org/sonder02-vogt_a.pdf, [Zugriff am 01.10.2022].
Winnicott, D. W. (1974/2010): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.

Karolin Schmitt-Weidmann
Hochschule für Musik Detmold
Neustadt 22
32756 Detmold
Deutschland
E-Mail: karolin.schmitt-weidmann@hfm-detmold.de
https://karolinschmitt.wordpress.com
Forschungsschwerpunkte: Bildung für nachhaltige Entwicklung, Lehrentwicklung an (Musik-) Hochschulen, Performativität, Neue Musik, Körperlichkeit, Interpretations- und Aufführungspraxis

[1] Hayward geht in Anlehnung an Nicholas Cook (2001) dabei nicht von einem Musikstück in Form eines Notentextes aus, sondern vom Erleben akustischer Spuren, welche persönliche Übergangsobjektserien hervorrufen (vgl. Hayward, 2022, S. 102 f.).
[2] Siehe insbesondere Vogt, 2002; Figdor & Röbke, 2008, S. 146 f.; Mahlert, 2011 (Kapitel „Methodische Impulse zum Ermöglichen von Glück“); das Themenheft „Musik und Glück“ der Zeitschrift üben & musizieren (1/2011); Bradler et al., 2015; Bartels, 2018 u. v. m.