Merzyn, Tatjana

Musikalische Revolution auf dem Vormarsch

Wie das venezolanische El Sistema die internationale Musik­pädagogik aufmischt

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2015 , Seite 46

Weltweit werden derzeit von El Sistema inspirierte Musikprojekte gegründet. Was zeichnet diese Projekte in ihrer pädagogischen Arbeit aus? Was können wir hierzulande von El Sistema lernen?

El Sistema Venezuela wurde vor rund zehn Jahren einer größeren Öffentlichkeit in Eu­ropa bekannt. 2003 wurde der damals erst 17-jährige Kontrabassist Edicson Ruiz als bis dahin jüngstes Mitglied bei den Berliner Philharmonikern aufgenommen. Ein Jahr später gewann Gustavo Dudamel den Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb und startete damit ­eine große internationale Karriere, die ihn 2009 an die Spitze des Los Angeles Philharmonic führte. Große venezolanische Jugendorchester kamen wiederholt zu Konzerten nach Europa und sorgten mit ihrem leidenschaftlichen Spiel auf höchstem Niveau für Aufsehen. Immer mehr Menschen fragten sich, wie es sein könne, dass aus einem Land wie Venezuela so viele junge Spitzenmusi-ker, aus einfachen Verhältnissen stammend, hervorkommen. Viele sprachen von einem „Wun­der“.1
1975 gründete der Musiker, Ökonom und Politiker José Antonio Abreu das, was heute als El Sistema bekannt ist. Seine Vision: Armut und Gewalt mit Musik bekämpfen. Kinder aus gefährdeten Verhältnissen sollten kostenlosen Zugang zu musikalischer Ensemblearbeit bekommen. Wer ein Instrument in die Hand bekommt, greift nicht zur Waffe – so Abreus These. Heute spielen rund 700000 Kinder in über 400 „Núcleo“ genannten Musikzent­ren ein Instrument. Einer Studie der interamerikanischen Entwicklungsbank zufolge wirkt sich die Arbeit positiv auf das Selbst­bewusstsein und die schulischen Ergebnisse der Teilnehmenden aus und senkt das Risiko, arbeitslos oder gewalttätig zu werden, deutlich.2
Das alles klingt nach einer Utopie von einer heilen Welt voller Musik. Was aber steckt dahinter? Welche Strukturen machen das alles möglich und welche pädagogischen Prinzipien findet man in den Núcleos? El Sistema ist so groß, dass es kaum möglich ist, allgemeine Aussagen über die pädagogische Praxis zu treffen. Es gibt aber doch gewisse Aspekte der Organisationskultur und Strukturen, die man überall wiederfindet und die in ihrer Summe Sistema von anderen Musik­institutionen und -projekten unterscheidet. So kann man fünf Grundelemente ausmachen, die ihrerseits miteinander zusammenhängen.

Sozialer Wandel

El Sistema verknüpft sozialen und musika­lischen Anspruch. Der soziale Gedanke zeigt sich zum einen darin, dass alle Kinder und Jugendlichen kostenlosen Zugang zum Unterricht im Projekt bekommen. Die Instrumente, die LehrerInnen und die ganze Infrastruktur werden zum wesentlichen Teil vom venezolanischen Staat finanziert. Auch Menschen mit Behinderungen und jugendliche Häftlinge aus den Gefängnissen bekommen Zugang zur musikalischen Arbeit. Außerdem ist El Sistema großflächig vernetzt. Die Núcleos sind im ganzen Land verteilt und kooperieren auf diversen Ebenen miteinander. Abreu gibt von Caracas aus nicht nur die organisato­rischen Rahmenbedingungen vor, sondern auch die Werte, die die Arbeit von El Sistema bestimmen. Vertrauen, Verantwortungsbewusstsein und bedingungslose Hingabe scheinen dabei ganz oben zu stehen. Dadurch, dass sich in ihrer Arbeit alle auf Abreu beziehen, gibt es eine erstaunliche Konsistenz bei dem, was einem Núcleo-Direktoren, Lehrende, Eltern und Kinder über die Grundsätze von El Sistema erzählen.

1 vgl. z. B. Stefan Piendl/Michael Kaufmann: Das Wunder von Caracas, München 2011.
2 vgl. José Cuesta: Music to my Ears: The (Many) Socio-Economic Benefits of Music Training Programs, Inter-American Development Bank, Washington 2008.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2015.