Krause-Benz, Martina

Musikerziehung

Versuch einer terminologischen Kartierung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2025 , Seite 10

Der Begriff Musikerziehung ist durch eine gewisse Unschärfe gekennzeichnet und daher nicht leicht greifbar. Der folgende Beitrag entwirft eine ­terminologische „Landkarte“ musik­pädagogischer Grundbegriffe, um zu diskutieren, wie sich der Begriff Musikerziehung darin verorten lassen könnte.

Musikerziehung wird – vor allem umgangssprachlich – synonym zum Begriff Musikpädagogik verwendet. Er hat gegenüber dem Begriff Musikpädagogik „die längere Tradi­tion“,1 ist aber offensichtlich „schon lange aus der Mode“ gekommen.2 Der Begriff findet sich zwar noch vereinzelt in der Bezeichnung musikdidaktischer Konzepte, z. B. Interkulturelle Musikerziehung,3 ist aber als Studienfachbezeichnung eher nicht mehr gebräuchlich.
Der folgende Beitrag spürt den Ursachen der Ambivalenz des Begriffs nach. Hierzu wird zunächst die (Problem-)Geschichte dieses Begriffs in der Fachdiskussion dargelegt. Anschließend wird eine terminologische Abgrenzung der Begriffe Musikerziehung, Musikpädagogik, Musikdidaktik und musikalische Bildung vorgenommen, um mögliche Überschneidungen, aber auch inhaltliche ­Unterschiede deutlich zu machen und die Brauchbarkeit des Begriffs Musikerziehung zu diskutieren. Abschließend werden Leit­linien für dessen zeitgemäße Verwendung zur Diskussion gestellt.

1. Entwicklung des Begriffs Musikerziehung

Das Kompositum Musikerziehung setzt sich aus den Komponenten Musik und Erziehung zusammen. Etymologisch geht das Verb „erziehen“ auf das althochdeutsche Wort irziohan aus dem 8. Jahrhundert zurück, welches „aufziehen“ bedeutet, und wird unter dem Einfluss des lateinischen educare (= „auf-, großziehen, ernähren, erziehen“) in der Bedeutung „jmdn., besonders ein Kind, geistig und charakterlich formen, seine Neigungen und Fähigkeiten entfalten“ verwendet.4 Musikerziehung ist folglich Erziehung in der Verbindung mit Musik, was allerdings in dieser vorläufigen Definition sehr vage bleibt und Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck zu der Frage veranlasst: „Ist der Begriff Musikerziehung überhaupt ein zu Erziehung passender, mit vergleichbaren Überlegungen versehener oder anschließbaren Bedeutung [sic] besetzter Begriff?“5 Dass der Erziehungsbegriff auch unabhängig von Musik nicht eindeutig ist, wird im dritten Abschnitt angedeutet. Zunächst soll auf der Basis von dessen ursprünglicher Bedeutung ein knapper Überblick über die historische Entwicklung des Begriffs Musikerziehung gegeben werden.
Die mit dem Verb erziehen einhergehende Bedeutung der geistigen und charakterlichen Formung eines Menschen verweist auf die Normativität des Begriffs. Dies trifft insbesondere auf die Musikerziehung zu: Seit Platon gilt Musik als Erziehungsmittel und wird „vom Mittelalter und von der frühen Neuzeit über die Aufklärung, den Humanismus und die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein […] eng mit einer ethisch-moralischen Bewertung“6 verknüpft. Als fester Begriff setzte sich Musikerziehung allerdings erst in der reformpädagogischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts durch.7
Es stellt sich dabei die Frage, welches Ziel ­eine mit Musik verbundene Erziehung hat, wozu also – in Bezug auf die ursprüngliche Wortbedeutung – ein Mensch im Zusammenhang mit Musik geistig und charakterlich geformt werden soll. Mit Blick auf die Fachgeschichte kristallisieren sich dabei zwei unterschiedliche Zielsetzungen heraus: Musik kann entweder ein Mittel für ein außerhalb ihrer selbst liegendes Ziel sein, oder Musik kann selbst das Erziehungsziel darstellen. Im ersten Fall würde ein Mensch durch Musik erzogen, im zweiten Fall handelte es sich um eine Erziehung des Menschen zur Musik. Diese Differenzierung sei an konkreten Beispielen aus der Fachgeschichte verdeutlicht.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Musik vor allem in der Schule als Erziehungsmittel genutzt.8 Ziele dieser Erziehung durch Musik, explizit durch den Gesang, waren überwiegend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bildung und Veredelung eines harmonischen Gemüts sowie Frömmigkeit und Gottesfurcht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diente der schulische Gesangunterricht primär patriotischen Zwecken. Gemeinschaftsideologie prägte die (außerschulische) Jugendmusikbewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und setzte sich in der Musischen Erziehung fort. Allerdings wurde in dieser Zeit auch die Idee einer Erziehung zur Musik deutlich, indem der Gemeinschaftsgedanke in den Dienst der Erweckung eines Bedürfnisses nach Musikpflege genommen wurde. Dies machte den Musikerziehungsbegriff allerdings schwer fassbar, wie das folgende Zitat von Fritz Jöde verdeutlicht: „Dieses ihr [der Musik] innerstes Wesen, ihr Gesetz am tiefsten zu erfassen, halten wir für unsere Aufgabe, für unseren Dienst, und zu dem wollen wir auch die künftige Generation erziehen.“9 Eine derartige terminologische Unklarheit machte nicht zuletzt den „bruchlosen Übergang von der Musischen Bewegung in die Bewegung des Dritten Reiches hinein möglich“,10 innerhalb derer die jungen Menschen zu Gefolgstreuen geformt wurden.
Die Indienstnahme der Musik für erzieherische Zwecke zeigt sich noch lange Zeit danach und auch heute, gleichwohl in anderer Form. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts war die Musikpädagogik von einem „Wirkungsdiskurs“11 durchzogen: Musik wurden angebliche Transfereffekte zugesprochen. Die Förderung kognitiver und sozialer Fähigkeiten durch Musik galt als Ziel, was insbesondere vor dem Hintergrund der in dieser Zeit sich etablierenden Theorie musikalisch-ästhetischer Erfahrung12 zu heftigen Diskussionen über den Eigenwert des Fachs Musik führte.

1 Schatt, Peter W.: Einführung in die Musikpädagogik, Darmstadt 2021, S. 38.
2 Hörmann, Stefan/Meidel, Eva: „Auf dem Weg zum Bamberger Fachstrukturmodell 2.0“, in: Diskussion Musikpädagogik, 86, 2020, S. 20-32, hier: S. 25.
3 www.interkulturelle-musikerziehung.de (Stand: 6.5.2025).
4 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, www.dwds.de/wb/etymwb/erziehen (Stand: 6.5.2025).
5 Schäfer-Lembeck, Hans-Ulrich: „Pädagogische Professionalität und Künstlerisches Lehramt Musik“, in: Diskussion Musikpädagogik, 77, 2018, S. 15-25, hier: S. 17.
6 Geuen, Heinz: „Musikbegriffe“, in: Dartsch, Michael/Knigge, Jens/ Niessen, Anne/Platz, Friedrich/Stöger, Christine (Hg.): Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse, Münster 2018, S. 18-24, hier: S. 19.
7 Kaiser, Hermann J.: „Musikerziehung/Musikpädagogik“, in: Helms, Siegmund/Schneider, Reinhard/Weber, Rudolf (Hg.): Kompendium der Musikpädagogik, Kassel 1995, S. 9-41, hier: S. 11-12.
8 vgl. im Folgenden Kraemer, Rudolf-Dieter: Musikpäda­gogik – eine Einführung in das Studium, Augsburg 2007, S. 68-75, und Gruhn, Wilfried: Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Gesangunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung, Hofheim 2003.
9 zit. nach Geuen, S. 19.
10 Kaiser, S. 13.
11 Vogt, Jürgen: „(K)eine Kritik des Klassenmusikanten. Zum Stellenwert Instrumentalen Musikmachens in der Allgemeinbildenden Schule“, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, 2004, S. 1-17, www.zfkm.org/04-vogt.pdf (Stand: 6.5.2025).
12 z. B. Rolle, Christian: Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse, Kassel 1999.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2025.

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