Fischer, Georg

Musikerziehung! Was sonst?

Plädoyer für ein scheinbar überholtes Wort

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2025 , Seite 13

Mit keinem anderen Wort hat die Musik­pädagogik ihren Gegenstand vielseitiger beleuchtet wie mit „Musikerziehung“. Das Wort tradiert Wissensbestände, deren Bedeutung für eine professionelle Gestaltung ihrer Praxisfelder kaum ­überschätzt werden kann.

Doch das Wort Musikerziehung bereitet der Musikpädagogik ein zweifaches Problem. Einerseits ruft es alte Vorstellungen einer sogenannten Erziehung durch Musik wach, erinnert an restriktive Praktiken und ver­gegenwärtigt Vereinnahmungen durch die Jugendmusikbewegung und den National­sozialismus. Die Musikpädagogik hat diese zurecht ad acta gelegt und greift infolgedessen nur noch selten auf das belastete Wort zurück.
Andererseits markiert seine Verbreitung in den 1920er Jahren den Beginn der (Allgemeinen) Musikpädagogik, die nicht lediglich den schulischen Musikunterricht oder die Unterweisung in ein bestimmtes Instrument thematisiert, sondern mithilfe des Terminus das gesamte Lernen und Beibringen von Musik in den Blick nimmt.1 Als ein solcher Zentralterminus hinterlässt seine Verdrängung gravierende Leerstellen. Weil dieses zweite Problem schwerer wiegt als jene negativen Konnotationen, die verblassen, wenn das Wort in anderen Zusammenhängen verwendet wird, möchte ich für eine Weiterverwendung von Musikerziehung plädieren.
Die Leerstellen werden an der Wortvermeidung deutlich, die Ende der 1960er Jahre beginnt. Die Ersetzung durch Musikunterricht verkürzt die Vielfalt der Musikerziehungswirklichkeit auf lediglich eine ihrer Erscheinungsformen. Die Umbenennung in Musik­pädagogik wiederum führt zur Zweideutig­keit, sodass der Gegenstand und das Handlungsfeld der Musikpädagogik nun gleichermaßen Musikpädagogik heißen. Der Ersatzname Musikvermittlung ist gescheitert, da der Ausdruck inzwischen auf Veranstaltungen des Konzertwesens festgelegt ist. Dagegen folgt der aktuelle Ersatz durch musikalische Bil­dung dem Sprachgebrauch in Politik und Öffentlichkeit (z. B. Bildungssystem). Gleich­wohl widerspricht er der (musik-)pädagogischen Fachsprache, die Bildung als Prozess und Produkt des Lernens auslegt. Zumal sug­geriert die Gleichsetzung von Erziehung und Bildung die falsche „Omnipotenzphantasie“,2 andere bilden zu können. Entsprechend kön­nen wir uns ebenso wenig auf die Alltags­sprache stützen, die das Thema der Pädagogik u. a. in Erziehung, Bildung, Ausbildung sowie Fort- und Weiterbildung aufteilt, wobei – im Gegensatz etwa zum englischen education – ein übergreifendes Wort abhandenkommt.
Dabei hält der traditionelle Terminus Musikerziehung eine enorme Reflexionstiefe be­reit. Er stellt in Rechnung, dass das Lernen der uns Anvertrauten noch nicht (vollumfänglich) selbstbestimmt und selbstverantwortet gelingt. Es ist auf Hilfestellung angewiesen. Doch betont er nicht die Aufrechterhaltung dieser Abhängigkeit, sondern ihre Überwindung: Erziehung ist ein Emanzipationsprozess. Wir müssen uns dieser Ambivalenz von Selbst- und Fremdbestimmung, von Selbstverantwortung und Fürsorge, von Mündigkeit und Bevormundung bewusst sein, um ver­antwortungsvoll und produktiv mit ihr um­gehen zu können. Ihre Verschleierung ist daher kein Fortschritt, sondern der Rückfall zu alter Gängelung und Restriktion.
Auch sei betont: Mit keinem anderen Wort hat die Musikpädagogik ihr Thema gründ­licher und vielseitiger beleuchtet als mit Musikerziehung.3 Das Wort tradiert Wissensbestände, deren Bedeutung für eine umsichtige, aber auch innovative Gestaltung ihrer Praxisfelder kaum überschätzt werden kann, das gilt insbesondere für den Musik- und Instrumentalunterricht an Schulen und Musikschulen.
Neue Impulse für eine Weiterverwendung verspricht die von Klaus Prange begründete Operative Pädagogik.4 Diese betrachtet die Erziehung als Zusammenspiel von Lernen und Erziehen, wobei Letzteres als eine Form des Zeigens gedeutet wird. Musikerziehung ist demnach die Interaktion aus Musikerziehen und Musik­lernen. Sie ist sowohl ein Verhältnis aus Musikerziehern und Musikzöglingen als auch ein Verlauf, der von der musik­bezogenen Erziehungsbedürftigkeit zur Mündigkeit führt. Letztere tritt ein, sobald die musikalische Bildung den musikbezogenen Lebensanforderungen genügt oder ein selbstständiges Weiterlernen ermöglicht.
Ein solcher, revidierter Begriff kann die entstandene terminologische Lücke der Musikpädagogik wieder schließen und zu einem besseren Verständnis unseres Handelns beitragen. Haben wir kei­nen an­gemessenen Ersatz, sollten wir bei Musik­erziehung bleiben.

1 vgl. Kestenberg, Leo: Musikerziehung und Musikpflege, Leipzig 1921; Kühn, Walther: „Grund­linien zu einer Theorie der musikalischen Erziehung“, in: Die Musikerziehung, 3. Jg., 1926, Heft 7/8, S. 133-139.
2 Mollenhauer, Klaus: „Was ist Erziehung – und wann kommt sie an ihr Ende?“, in: Loccumer Pelikan, 1997, Heft 4, S. 155-160, hier: S. 155.
3 siehe u. a. Gruhn, Wilfried: Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Gesangunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung, Hofheim 2003; Harnischmacher, Christian: Subjektorientierte Musikerziehung. Eine Theorie des Lernens und Lehrens von Musik, Augsburg 2012.
4 vgl. u. a. Prange, Klaus: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik, Paderborn 2012.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2025.

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