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Mahlert, Ulrich

Musiklehrende als Dickhäuter?

Über ein förderliches Verständnis von Resilienz

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 10

Wer Musik macht und Musik unterrichtet, benötigt viel Sensibilität. Wie verträgt sich dies mit der wünschenswerten Eigenschaft, den Berufsalltag mit Resilienz zu meistern?

Ohne Feinnervigkeit ist ein intensives, ausdrucksstarkes und Menschen berührendes Musizieren kaum vorstellbar. Gewinnbringendes Üben setzt Wachheit der Sinne voraus. Gutes Zusammenspiel erfordert mimosenhafte Sensitivität. Lehrkräfte benötigen in der Arbeit mit ihren SchülerInnen ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Mangelt es daran, laufen sie Gefahr, deren Bedürfnisse und Möglichkeiten zu verfehlen. MusikerInnen und Musiklehrende gelten oft als „zart besaitet“ – und viele von ihnen sind es tatsächlich. Wo robustere Naturen sich leicht mit Schwierigkeiten arrangieren, gehen ihnen negative Erlebnisse wie Kränkungen, widrige Umstände und Misserfolge oft tiefer unter die Haut.
Andererseits hat, wer Musik macht, eine ungeheure Kraftquelle: eben das Musizieren. Vielerlei Funktionen dieser Tätigkeit können Musikausübende stärken: das Gefühl der Selbstwirksamkeit, die Möglichkeit, Emotionen intensiv ausdrücken zu können, sodann die in Musikwerken vorhandenen und die im Improvisieren entfaltbaren Energien, die Befriedigung durch Erfolgserlebnisse, die Bewunderung durch ZuhörerInnen, die subtilen zwischenmenschlichen Begegnungen im Proben und Spielen. Singen gilt als förderlich für körperliche und seelische Gesundheit. Ebenso bieten Instrumente vielerlei Möglichkeiten, im musizierenden Interagieren mit ihnen körperliche und emotionale Potenziale zu entwickeln und zu verfeinern. „Wer ein Ins­trument beherrscht, hat einen lebenslangen Begleiter […] und wer in musikalischen Anschauungen leben und denken kann, bewegt sich in einer einzigartigen Symbolwelt, die präzise verfährt, gerade weil sie in ihrer Tiefe schwer fasslich ist.“1
Musik kann alles in sich aufnehmen, was Menschen bewegt – Freuden ebenso wie Leiden, und sie ermöglicht ihnen, alle Regungen im Akt des Musizierens durchzuarbeiten, innere Gemengelagen in ein Gleichgewicht zu bringen, Chaos zu klären. Nicht zuletzt können auch sensible Naturen durch Auftritte ihr Nervenkostüm stärken.
Jeder Musiker, jede Musikerin und wohl auch jede Lehrkraft bezieht auf individuelle Weise diverse Energien aus ihrer musikalischen Praxis. Aber Musizieren panzert nicht gegen widrige Lebensumstände. Gerade weil MusikerInnen für ihr Tun viel Sensibilität benötigen und in ihrem Metier fortwährend kultivieren, sind viele von ihnen verletzlicher als andere Menschen. Somit ist gerade für sie der Erwerb von Resilienz eine wichtige Aufgabe, um ihre beruflichen Anforderungen und überhaupt ihr Leben zu meistern.
Panzerung verträgt sich nicht mit den Anforderungen des Musizierens und Musiklehrens. Daher muss ein anderes Verständnis von Resilienz gesucht werden als das weithin übliche, das der Vorstellung von Widerstands­fähigkeit durch Heranbildung einer dicken seelischen Außenhaut entspricht.

Resilienz als ausbalancierte ­Aktivität

Das lateinische Verb resilire, das dem Begriff Resilienz zugrunde liegt, bedeutet „zurückspringen“, „abprallen“. „Resilio“ (erste Person Präsens Indikativ) wäre dementsprechend zu übersetzen mit „ich springe zurück“, „ich pralle ab“. Zwischen beiden Formulierungen besteht eine charakteristische Differenz: „ich springe zurück“ ist eine Aktivität, „ich pralle ab“ dagegen ein passiver, mechanischer Vorgang. Die erste Bedeutung führt auf eine Spur, die Vorstellung von Widerstandsfähigkeit entmechanisiert. Und in der Tat stellt ja eine Fähigkeit ein subjektives Vermögen dar, das Handeln ermöglicht. Zu entwickeln wäre daher eine Auffassung, die Resilienz als aktives Tun betrachtet. Dieses Tun mag dann dazu führen, dass ein resilienter Mensch sich eine Haltung erwirbt, mit der er bestimmte widrige Ereignisse und Umstände leichter bewältigt, vielleicht sogar gelegentlich an sich abprallen lässt. Im Unterschied zu einem starren Panzer, der negative Erfahrungen erst gar nicht an das persönliche Innenleben heranlässt, basiert diese Haltung jedoch auf Wahrnehmungsbereitschaft und Berührbarkeit. Und damit bildet sich eine Resilienz, die die für MusikerInnen unverzichtbare Sensibilität keineswegs ausschließt, sondern gerade aus ihr Kräfte zur Bewältigung schwieriger Umstände bezieht.
Eine so verstandene Resilienz ist eine Kraft, die in einem Spannungsgefüge mit verwandten Eigenschaften steht. Dieses Gefüge lässt sich mit einem hilfreichen kommunikationspsychologischen Werkzeug erhellen, das Friedemann Schulz von Thun geschaffen hat: dem „Werte- und Entwicklungsquadrat“.2 Es beruht auf der Einsicht, dass jede subjektive Qualität von Übersteigerung bedroht ist und, um diese zu vermeiden, der Gegenkraft einer Schwestertugend bedarf. Ein Werte- und Entwicklungsquadrat unterschiedlicher Erscheinungsformen im Feld von Resilienz könnte so aussehen:

Stabilität gerät, wenn sie radikal realisiert wird, in die Gefahrenzone der Verhärtung. Die so zugelegte Abwehrkraft gegen widrige Außeneinflüsse mag einen gewissen Schutz bieten, jedoch wird das „Dichtmachen“ dadurch erkauft, dass Widerstände unbearbeitet bleiben. Damit bleiben die Chancen, in der Beschäftigung mit ihnen zu wachsen, ungenutzt. Nötig ist daher ein Ausgleich durch die „Schwestertugend“ der Berührbarkeit. Wird allerdings die Bereitschaft, sich von Widerständen innerlich bewegen zu lassen, allzu stark praktiziert, so resultiert daraus eine Schutzlosigkeit, in der das erlebende Subjekt sich den in der Außenwelt begegnenden Schwierigkeiten ausgeliefert und preisgegeben fühlt. Daher sollte, wer sich „unten“ in der jeweiligen negativen Übersteigerung einer der beiden Tugenden erkennt, nach der schräg oben liegenden Qualität streben.

Resilienz ist kein starrer Schutzschild, sondern ein Umgang mit ­Widerständen, der das seelische ­Gleichgewicht alsbald austariert.

Stabilität und Berührbarkeit können einander produktiv ergänzen. Nur in einem Balanceverhältnis der beiden Qualitäten bildet sich die Charaktereigenschaft, die den Namen Resilienz verdient – die also nicht von einfühl­samen MusikerInnen und Musiklehrenden verlangt, die in ihrem Beruf unverzichtbare Sensibilität preiszugeben. Denn Resilienz ist, wie gezeigt, kein starrer Schutzschild, sondern ein Umgang mit Widerständen, der das seelische Gleichgewicht alsbald austariert. Mit der wohlerwogenen Definition des Resilienzforschers Raffael Kalisch ausgedrückt: „Resilienz ist die Aufrechterhaltung oder schnelle Wiederherstellung der psychischen Gesundheit während oder nach Widrigkeiten.“3

Resilienz im musikpädagogischen Alltag

Persönliches Wohlbefinden hängt nicht zuletzt davon ab, wie berufliche Anforderungen gemeistert werden. Im Alltag von Musiklehrenden kommt hinzu, dass Berufliches und Persönliches oft eng miteinander verflochten sind. Telefongespräche, Mail- und WhatsApp-Nachrichten und vieles mehr kommen zu den offiziellen Unterrichtsstunden hinzu. Während der Corona-Pandemie wurde Online­unterricht zu einer gängigen pädagogischen Praxis. Mit ihr wirken Lehrende vermehrt von ihrer Privatsphäre aus in das häusliche Ambiente ihrer SchülerInnen hinein. Die Wohnung von Lehrenden ist nicht länger ein privates Reservat, sondern ein beruflicher Ort des Handelns.

1 Oelkers, Jürgen: „Gehört Musik in die Schule der Zukunft?“ Vortrag auf dem Musikschulkongress am 12. Mai 2007 im Congresscentrum Rosengarten in Mannheim, www.ife.uzh.ch/dam/jcr:00000000-4a53-efb2-ffff-ffffcfd39b8e/265_MannheimMusik.pdf (Stand: 30.3.2022), S. 11 f.
2 Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differenzielle Psychologie der Kommunikation, Reinbek 1989, S. 43-64.
3 Kalisch, Raffael: Der resiliente Mensch. Wie wir Krisen erleben und bewältigen. Neueste Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie, München 2020, S. 28 (Zitat im Original kursiv).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2022.