Krebs, Matthias

Musikmachen im Web 2.0

Neue Möglichkeiten, gemeinsam im Internet zu musizieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2010 , Seite 18

Längst bietet das Internet mehr als nur den Vertrieb von Musik-Dateien. Im so genannten “Mitmach-Internet” (Web 2.0) treffen sich immer mehr (vor allem junge) Menschen auf Social-Media-Plattformen, um miteinander in Kontakt zu treten. Auch musikalische Aktivitäten können zunehmend in Echtzeit ausgeführt werden, wodurch eine neue Form der musikalischen Praxis entsteht.

Haben Sie schon einmal versucht, über einen Internet-Telefondienst wie Skype gemeinsam Musik zu machen, z. B. ein kleines Duett zu singen? Obwohl in einer Videokonferenz ohne Weiteres fünf Teilnehmende miteinander diskutieren können, endet das musikalische Experiment selbst ohne Bildübertragung schon im ersten Takt unweigerlich in einem Chaos. Eine Zeitverzögerung, die beim Sprechen kaum auffällt, macht das Musizieren unmöglich. Ähnlich unbefriedigend ist das Spielen auf einer virtuellen Klaviertastatur, auf die man über eine Webseite zugreifen kann.1 Eine musikalische Artikulation lässt sich hier mit dem Mausklick kaum realisieren. Vielleicht ist es also kein Wunder, dass die Musikpraxis im Internet bisher wenig Bedeutung hat, scheinen doch keine Bedingungen für das Musizieren gegeben zu sein.
Aus unserem Verständnis des Computers als „Apparat der unbegrenzten Möglichkeiten“ haben wir den Anspruch, dass beliebige Sys­teme und Anwendungen gestaltet werden können – auch solche, die in jenem Lebensbereich, der als natürliche Realität verstanden wird, nicht existieren. Wie aber kann das Internet, das beinahe alles mit jedem interaktiv zu verbinden scheint, für kreatives Gestalten von Musik und gemeinsames Musizieren genutzt werden? Hat Musikmachen neben den zahlreichen anderen Funktionen des Internets überhaupt Relevanz?
Ohne Zweifel ist Musik ein bedeutender Bestandteil des Internets. Doch ist der Handel mit Sound-Dateien dabei nur eine primitive Form musikalischer Interaktion. Grundidee ist, eine Technologie verfügbar zu machen, die in der Lage ist, Menschen zu helfen, sich musikalisch auszudrücken, und das Bewusstsein für den Computer als musikalisches Ausdrucksmittel zu schärfen. Je alltäglicher und selbstverständlicher kreative Gestaltung im Netz wird, desto mehr bilden sich Freiräume und Nischen, in denen sich Kunst, Kultur und Individualität entfalten können. Aber welche Kenntnisse sind für eine aktive Teilnahme an einer wie auch immer gearteten digitalen Musikpraxis und der damit verbundenen Musikkultur notwendig?
Konflikte entstehen immer dann, wenn versucht wird, erfolgreiche traditionelle Werkzeuge eins zu eins auf neue Entwicklungen zu übertragen, aber dabei neue Möglichkeiten und Eigenschaften ignoriert werden. Das Keyboard im Proberaum beispielsweise hat gegenüber einem Konzertflügel eine ganze Reihe von Nachteilen, z. B. bezüglich seines nachahmenden Piano-Klangs oder in der geringeren Differenzierungsmöglichkeit beim Tastenanschlag. Auf der anderen Seite hat es aber auch viele Vorteile: den Preis, seine Mobilität, die Klangauswahl, eine integrierte Aufnahmefunktion etc. Die Relevanz des Inst­ruments entscheidet sich nach dem Kontext, in dem die Musik entsteht sowie vermittelt und rezipiert wird. So ist der Konzertflügel für die Musik auf der klassischen Konzertbühne von Bedeutung, beim Live-Gig im Jazzclub kommt das Keyboard zum Einsatz. Für das Anspielen einer kurzen Melodie hat die oben vorgestellte virtuelle Klaviertastatur im Internet den Vorteil, von überall erreichbar zu sein. Doch zum gemeinsamen Musizieren bleiben bei diesem Konzept entscheidende Möglichkeiten des Internets als Kommunikations- und Handlungsraum ungenutzt. Um zu ergründen, welches musikalische Potenzial das Internet hat und wie es gemeinsames Musizieren unterstützen kann, bedarf es also einer Betrachtung der spezifischen Be­dingungen und Möglichkeiten des Mediums.

Netzmusik

Wird über Musik im Internet gesprochen, so beschränkt sich die Reflexion darüber häufig auf die Verfügbarkeit gespeicherter Musik. Charakteristisch für diese Form der Mediennutzung ist, dass das Netz auf etwa dieselbe Weise wie die Massenmedien Radio und Fernsehen verwendet wird: Es wird ein Programmangebot „angeschaltet“. Dabei bleiben wesentliche Aspekte dieses Mediums jedoch unberücksichtigt. Auf das Musikmachen bezogen ist der vernetzte Computer zunächst als Sendekanal in der Hand des Nutzers für die kommunikative Nutzung des Internets interessant. Darüber hinaus verfügt das Medium neben der Anwendung zum gleichberechtigten Informationsaustausch aber auch über die Möglichkeit des Prozessierens von Informationen. Letzteres beinhaltet das aktive Gestalten, das heißt die Steuerung, Modifikation oder Herstellung musikalisch relevanter Daten, wobei das Internet selbst Instrument mit charakteristischen Klangeigenschaften sein kann.
Traditionellerweise liegt die Stärke von Kunstschaffenden im Entdecken neuer Mittel und Wege, Medien und Materialien zu verwenden. Durch das Auffinden neuer oder sogar widersprüchlich erscheinender Interpretationen für bestehende Systeme und Organisationen sowie im Aufweichen traditioneller Strukturen helfen Künstlerinnen und Künstler, einen neuen Sinn für diese zu finden. Als erster musikwissenschaftlicher Ansatz zur Beschreibung musikalischer Phänomene der Netzkunst, die unter Einbeziehung der spezifischen Möglichkeiten und Bedingungen in elektronischen Netzen entsteht, gilt die Arbeit von Golo Föllmer. Er definiert Netzmusik als Musik, „die spezifische Eigenschaften des Internets strukturell reflektiert“.2 Die Strukturen des Internets dienen dabei nicht nur der Verbreitung oder Darstellung von Musik, sondern finden in ihr selbst Ausdruck.
Dabei können die musikalischen Netzprojekte als konsequente Fortsetzung der Ideen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Grundmotivation für die kreative Dynamik in der Frühzeit des Internets Anfang der 90er Jahre war insbesondere die kollektive Erforschung des „Cyberspace“. Angestrebt wurde eine Medienästhetik elekt­ronischer Netze, die ein neues Musikverständnis und einen neuen ästhetischen Kanal herausbildet. Der öffentliche Raum des Internets bot sich dafür an, wurde er doch kaum mit den altbekannten Ritualen des Konzertsaals in Verbindung gebracht. Er entwickelte sich damit zum Experimentierfeld für die Neudefinition der Beziehung zwischen Musiker und Zuhörer. Leitmotiv ist dabei die Idee einer kollektiven Kreativität, die sich von der Idee des Künstlers als Einzelschöpfer abwendet, indem die Rezipienten selbst zum Performer bzw. Co-Autor werden. Netzmusik ist daher nicht Produkt, sondern musikalische Aktivität. Wahrnehmen wird zum Teilnehmen.3
Seit etwa 2005 ist eine Schwerpunktverlagerung in der Musikpraxis im Internet festzustellen. Die Entwicklung bewegt sich von der Experimentierphase der avantgardistischen Netzmusik, in der die Eigenschaften des Internets im Mittelpunkt stehen, hin zu Konzepten des Musikmachens, die das Netz zu Produktions- und Distributionszwecken von Musik in den Vordergrund stellen und dabei stärker den kommunikativen Aspekt des Internets nutzen. Diese aktuellen musikalischen Projekte stehen im Kontext des so genannten Web 2.0 und sind mit dessen Eigenschaften ausgestattet.4

Web 2.0

Vielen macht die rasante Entwicklung des Internets, die durch den zunehmenden Vernetzungsgrad noch beschleunigt wird, Angst: Sie fürchten die Orientierung und den Anschluss zu verlieren. Bezeichnenderweise bezieht sich jedoch der Begriff Web 2.0, der sig­nalisiert, dass es sich dabei um eine zweite Version des Internets handelt, weder auf spezifische Technologien oder Innovationen noch auf eine bestimmte Software-Version. Web 2.0 beschreibt vor allem eine veränderte Nutzung und Wahrnehmung des Internets und steht für eine Reihe interaktiver und kollaborativer Elemente. Daher wird in diesem Zusammenhang auch häufig von einem Wandel zum „Mitmach-Internet“ gesprochen. Inhalte werden nicht mehr nur zentral von großen Medienunternehmen erstellt und über das Internet verbreitet, sondern inzwischen auch von einer Vielzahl von Individuen, die sich mit Hilfe so genannter Social Media untereinander vernetzen.5 Aus Webseiten werden nun Internetplattformen, die es den Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen, ohne besondere technische Fähigkeiten Inhalte in qualitativ und quantitativ entscheidendem Maß selbst zu erstellen, zu bearbeiten und zu pub­lizieren.

Inhalte werden nicht mehr nur zentral von großen Medienunternehmen erstellt und über das Internet ver­breitet, sondern inzwischen auch von einer Vielzahl von Individuen.

Social Media sind asymmetrisch und demokratisch: Jeder kann, niemand muss daran teilnehmen. Dies gilt beispielsweise dann, wenn man eigene Musikproduktionen auf Myspace veröffentlicht, einen Artikel zu einem Musikbegriff bei Wikipedia bearbeitet oder ein Konzertvideo bei Youtube kommentiert. Dabei basieren die einzelnen Social-Media-Angebote meist auf einer spezifischen, selbstorganisierten Web-2.0-Sozialkultur, den so genannten Social Communities bzw. sozialen Netzgemeinschaften. Die Teilnahme daran wird über ein persönliches Nutzerprofil geregelt, wodurch auch der Aufbau von Kontakten auf Grundlage gemeinsamer Interessen und Projekte sowie veröffentlichter Inhalte ermöglicht wird. Die vielen Internetplattformen unterscheiden sich dabei thematisch: Die bedeutendsten sind Kommunikationsplattformen wie Facebook, daneben gibt es aber auch Foto- und Videoplattformen sowie Musikplattformen.
Die Internetseite Noteflight ist ein charak­teristisches Beispiel für eine Web-2.0-Musikplattform. Es handelt sich um eine kosten­lose6 Notationsanwendung, bei der man ­Noten online im Internet-Browser schreiben, anhören, ausdrucken und sich mit anderen Nutzern über Kompositionen austauschen kann. Im Folgenden sollen die charakteris­tischen Merkmale7 des Web 2.0 am Beispiel von Noteflight vorgestellt werden. Diese Merkmale sollen einerseits dabei helfen, sich in der aktuellen Entwicklung des Internets zu orientieren.8 Auf der anderen Seite sollen sie einen Überblick über die Bedingungen und Möglichkeiten verschaffen, die die kreative Gestaltung von Musik beeinflussen.
– Netz als Programmplattform: Noch vor ­Kurzem waren Programme, die im Internetbrowser laufen und mit ähnlicher Funktionalität und Performanz fest installierte Programme auf dem eigenen Rechner überflüssig machen, eine Innovation. Dadurch sind sie unabhängig davon, welches Betriebs­system man nutzt und ob man im Büro, in der Schule oder zu Hause am Computer arbeitet.
Unter www.noteflight.com hat man Zugriff auf ein vollwertiges Notensatzprogramm, in dem Noten für Soloinstrumente sowie Band-Arrangements und kleine Orchestersätze mit Dynamikzeichen und Liedtexten gesetzt werden können.
– „Mitmach-Internet“: Zur Partizipation sind keine Programmierfähigkeiten nötig. Die Möglichkeit, Internetseiten dynamisch in Abhängigkeit von den Nutzern zu generieren, macht eine einfache Interaktion zwischen Nutzer und Webseite möglich.
Noten können in Noteflight direkt per Maus oder Tastatur eingegeben werden, ebenso werden Veränderungen im Layout vorgenommen. Natürlich können die Notensätze auch jederzeit angehört werden.
– Einzigartige Datenbasis: Den Nutzern wird die Möglichkeit geboten, ihre Inhalte anderen Nutzern zur Verfügung zu stellen. Bei großen Nutzer-Gemeinschaften steigt die Anzahl von Inhalten in kurzer Zeit enorm an. Typische Beispiele dafür sind Youtube und Wikipedia.
Noteflight bietet aktuell fast 50000 Kreationen im öffentlichen Teil der Notenbibliothek.
– Ständige Weiterentwicklung: Die Software von Web-2.0-Anwendungen wird aufgrund des Nutzer-Feedbacks permanent verbessert.
Auch bei Noteflight wird die Bedienung ständig optimiert und kommen neue Funktionen hinzu: So können inzwischen z. B. Gitarrentabs eingefügt oder Noten farblich markiert werden. Bei der Weiterentwicklung wird insbesondere die Nutzung im Musikunterricht berücksichtigt, da auch Musikpädagogen im Noteflight-Team mitwirken.
– Wiederverwendbare Komponenten: Die Inhalte der einzelnen Internet-Plattformen sind nicht auf diese Seiten beschränkt. Sie können als Modul auch auf anderen Seiten angezeigt werden, wobei die eigentlichen Daten auf der ursprünglichen Seite bleiben.
Noteflight erlaubt es beispielsweise, eine Komposition mittels eines Codeschnipsels z. B. auf dem eigenen Blog anzuzeigen, wo sie auch abgespielt werden kann.
– Nutzergemeinschaften: Charakteristisch für Social Media ist, dass die Internetseiten Funktionen zur Kommunikation in Gemeinschaften anbieten.
Bei Noteflight können Nutzer über die Kommentarfunktion der Notensätze mit anderen Nutzern in Kontakt treten. Es ist auch möglich, dass das Mitwirken an Kompositionen für bestimmte Kontakte zugelassen wird, sodass gemeinsame Kompositionen entstehen können.
Die Bandbreite musikbezogener Internetplattformen deckt die gesamte Musikkultur ab. Es gibt z. B. Veranstaltungsplattformen, Kommunikationsplattformen wie Myspace, Radio-Plattformen, Expertenblogs zu Themen klassischer Musik, Plattformen für Musikspiele sowie Plattformen, die direkt mit einem Downloadshop verknüpft sind. Dabei ist der Spielraum der musikalisch-kreativen Aktivität groß. Er reicht von Plattformen, die im engeren Sinne Möglichkeiten bieten, Musik kreativ zu gestalten oder gemeinsam zu musizieren, über Plattformen, die ohne besondere musikalische Kenntnisse zum Experimentieren einladen, bis hin zu Plattformen, die nur das Abrufen von einzelnen Titeln zum Musikkonsum anbieten.

Musikplattformen

Erst seit etwa zwei Jahren werden Musikplattformen online gestellt, die dem Bereich der Social Media im Sinne des Web 2.0 zuzuordnen sind und eine kreative Musikgestaltung im engeren Sinne zulassen – also einen deutlichen Bezug zu einer aktiven Musikpraxis haben. Im Rahmen zweier Hochschul­seminare im Fachbereich Musikpädagogik9 wurden insgesamt über 30 Musikplattformen entdeckt. In Gruppenprojekten wurden davon einige Plattformen näher auf ihre gestalterischen Möglichkeiten untersucht sowie Ideen für den Musikunterricht entworfen und erprobt.

Viele Musikplattformen kennzeichnet, dass die ­Beziehungen innerhalb von Nutzergruppen höchste Priorität haben.

In Bezug auf das gemeinsame Musikmachen bestand die Herausforderung insbesondere darin, einen Rahmen zu formulieren, in dem andere – nach vorher festgelegten Regeln – musikalisch aktiv werden können. Rahmen und Regeln müssen vom Initiator sorgfältig aufeinander abgestimmt sein, soll die ästhetisch-kommunikative Erfahrung gelingen. Bei der Konversation auf Musikplattformen ist auch sorgfältiges Zuhören Voraussetzung für das Gelingen der Interaktion. Bei der musikpädagogischen Betrachtung wurden eine ganze Reihe von Chancen, aber auch einige Schwierigkeiten für den Unterricht deutlich. So ist z. B. die Ablenkung für die Lernenden im Internet groß und es müssen datenschutzrechtliche Vorgaben beachtet werden. Außerdem gibt es die meisten Musikplattformen nur auf Englisch. Jedoch ist die Bedienung von Musikplattformen charakteristischerweise nicht sehr komplex, sodass sich meist auf einfache Weise bewusst gestaltete und gute Klangergebnisse erzielen lassen. Als Ergebnis der Untersuchung wurden ­umfangreiche Skripte erstellt und unter www.musiklernen.tumblr.com veröffentlicht. Im Folgenden soll ein kleiner Überblick über die verschiedenen Formen des Musikmachens im Internet gegeben werden.
Auf Thounds (www.thounds.com) können Nutzer musikalische Gedanken (Melodien, Riffs etc.) mit einem Mikrofon direkt ins Internet aufnehmen und speichern. Werden diese Aufnahmen veröffentlicht, so können Musiker aus aller Welt weitere Tonspuren (Gesang, Percussion etc.) einspielen, sodass ein internationales Musikstück entsteht.
Unter www.inudge.net findet man das sehr reduzierte Musikprogramm iNudge, mit dem auch Nutzer ohne musikalische Vorkenntnisse experimentieren können. Die entstehenden mehrstimmigen Kompositionen können an Freunde verschickt werden, die ihrerseits musikalisch antworten können.
Eine besondere Möglichkeit, selbst aufgenommene Musikstücke in einer Gemeinschaft zu besprechen, bietet die Musikplattform Soundcloud unter www.soundcloud.com. Der Musikplayer ermöglicht das genaue Zuordnen von Kommentaren im zeitlichen Ablauf der Musik.
Ein mehrspuriges Musikstudio bietet die Musikplattform Myna (www.aviary.com/tools/ audio-editor). Nutzer können hier einzelne Sequenzen aufnehmen, bearbeiten und mit Effekten belegen. Außerdem steht eine umfangreiche Soundbibliothek zur Verfügung, sodass man sofort mit der Musikproduktion beginnen kann.
Die Musikplattform eJAMMING AUDiiO (www.ejamming.com) bietet einen virtuellen Proberaum für Jamsessions an. Hier kann man mit sehr geringer Verzögerung mit Musikern auf der ganzen Welt live musizieren.

Musikplattformen bieten die Möglichkeit, mit Menschen aus anderen Kulturen in Verbindung zu treten oder sich weltweit zu präsentieren.

Diese Musikplattformen kennzeichnet, dass die Beziehungen innerhalb von Nutzergruppen höchste Priorität haben. Der Aufbau realer Beziehungen zwischen Menschen und die verschiedenen neuen Möglichkeiten, mitei­nander Musik zu machen, führen zu neuen gestalterischen Erfahrungen, die die Vorlieben der Musizierenden und die ihrer Freunde im Netzwerk einbeziehen. Intention ist es hierbei, aus der Orts- und Zeitunabhängigkeit sowie durch Vernetzung individuelle Projekte zu schaffen. Dabei setzen die Nutzer von Musikplattformen traditionelle Kriterien an die entstehende Musik im elektronischen Raum an und nutzen das Netz eher pragmatisch. Handlungsweisen und Interaktionsprinzipien wie Proben oder Jamming, Mischpulte oder Kompositionsprogramme werden hierbei auf das neue Medium übertragen. Im Gegensatz zu den Phänomenen der Netzmusik wirkt das Me­dium Internet nicht entscheidend in den gestalterischen Produktionsprozess von Musik ein, sondern dient als Kommunikationsmedium, um innerhalb von Interessengruppen Informationen auszutauschen. Dabei bieten die Musikplattformen durch die verschiedenen Gestaltungs-, Kommunikations- und Distributionsmöglichkeiten Chancen für eine individuelle Perspektive der kreativen Arbeit.

Kollektive Kreativität

Der inzwischen verstorbene Netzkünstler Max Neuhaus formulierte als Vision einer neuen Musikform: „Musik zählt nicht als Ergebnis, sondern als Aktivität, nicht als rationaler, sondern als intuitiver, emotionaler und sinnlicher Prozess; Musik ist nicht statisch, sondern ein sich entwickelnder, sich selbst ständig neu definierender Prozess.“10 Dabei zielen seine Arbeiten auf eine Musik, die nicht als Ergebnis hochentwickelter Fertigkeiten, „sondern vielmehr als Resultat eines Einverständnisses innerhalb der Gruppe entsteht“.
Es sind vor allem musikalische Projekte, die versuchen, den Prozess einer gemeinsamen Kommunikationsform im Internet zu ästhetisieren und damit auf eine andere kreative Ebene zielen: das Entstehen neuer Formen kollektiver Kreativität, bei der sich Wissenschaft und Kunst von einer individualisierten Kultur zu einer kooperativen, interdisziplinären Kommunikationsstruktur entwickeln. Die Veränderung der Möglichkeiten zur kreativen Gestaltung von Musik führt dazu, dass man nicht mehr allein vor dem Computer sitzt, sondern an einem sozialen Ereignis teilnimmt, bei dem man mit anderen interagiert. Selbststeuerung und aktives Gestalten stehen im Vordergrund.
Noch nie wurde so viel Musik verbreitet wie heute. Dabei geht es weniger um Kunst – im Sinne von Kunstwerken –, sondern um musikalische Praxis. Es ist eine Musizierform, die nicht das endgültige Werk zum Ziel hat, sondern die vor allem als Aktivität in Gemeinschaft dient. Da immer mehr musikalische Aktivitäten in Echtzeit durchgeführt werden können, ergeben sich hier immer neue Möglichkeiten der Interak­tion zwischen den ak­tiven Teilnehmern bzw. Musikern auf den Plattformen.
Damit schließt sich der Kreis meiner Betrachtung, die versuchte, neue Möglichkeiten des Musikmachens aufzuzeigen. Es existiert eine kollaborative Musikpraxis im Internet. Musik kann direkt im Internet-Browser oder (schon in naher Zukunft) auf mobilen Endgeräten gestaltet werden. Dabei entsteht diese Musik in einem offenen Prozess. Musikplattformen bieten die Möglichkeit, mit Menschen aus anderen Kulturen in Verbindung zu treten oder sich individuell weltweit zu präsentieren.

1 z. B. unter www.virtualpiano.net
2 Golo Föllmer: Netzmusik. Elektronische, ästhetische und soziale Strukturen einer partizipativen Musik, Hofheim 2005, S. 1.
3 Unter der Adresse www.netzmusik.wordpress.com wurde eine Sammlung von Internet-Links von Projekten der Netzmusik mit einer Beschreibung der Angebote zusammengestellt.
4 Auch wenn die Bezeichnung Web 2.0 im Jahr 2004 zunächst als eine Geschäftsrevolution im Internet infolge des Crash der New Economy deklariert wurde und es einige Schwierigkeiten bereitet, einen derart kommerziell belegten und unscharfen Begriff zu verwenden, so dient dieses ideenleitenden Schlagwort doch zur Beschreibung der vielschichtigen Veränderungen im Internet.
5 Social Media (auch Soziale Medien) umfassen web­basierte Anwendungen, die den Menschen beim Informationsaustausch, Beziehungsaufbau und bei der Kommunikation in sozialen Kontexten unterstützt. Die Bezeichnungen Web 2.0 und Social Media werden häufig synonym benutzt. Dabei wird Web 2.0 in wesentlich umfassenderen Zusammenhängen verwendet. Der Begriff kann technische, ökonomische und rechtliche sowie soziale Aspekte beinhalten.
6 Wie für Social Media üblich, wird neben der kostenlosen Anwendung auch eine Premium-Lösung angeboten, die ein erweitertes Funktionsspektrum bietet.
7 Diese Merkmale orientieren sich an einem grundlegenden Artikel des Verlegers Tim O’Reilly aus dem Jahr 2005, der das Web 2.0 als eine Entwicklung hin zum Internet als Plattform beschreibt (vgl. Tim O’Reilly, http://oreilly.com/web2/archive/what-is-web-20.html, Stand: 18.08.2010).
8 Sicher haben Sie bereits selbst Erfahrungen mit typischen Web-2.0-Anwendungen außerhalb von musikbezogenen Nutzungsbereichen gemacht. Wichtige Vertreter sind neben Youtube und Wikipedia z. B. die Fotoplattform flickr, aber auch Weblogs.
9 „Musiklernen im Web 2.0“ im Wintersemester 2009/ 10 an der Universität Potsdam und „Musik im Internet“ im Sommersemester 2010 an der Universität der Künste Berlin.
10 Max Neuhaus: „Audium: Projekt für eine Welt als Hör-Raum“, in: Edith Decker/Peter Weibel (Hg.): Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, Köln 1990, S. 122.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2010.