Bertels, Gesa / Ilka Brambrink
Musikschule – aber sicher!
Schutzkonzepte gegen (sexualisierte) Gewalt
Für viele Einrichtungen, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten, gehören organisationale Schutzkonzepte mittlerweile zu den verpflichtenden Standards. Auch für Musikschulen ist es lohnend, sich mit den spezifischen Erfordernissen in Bezug auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen und mit der Prävention von Gewalt auseinanderzusetzen. Der Beitrag erläutert, welche Idee hinter Schutzkonzepten steckt, und zeigt erste Schritte auf, wie diese im Kontext Musikschule entwickelt werden können.
Die Forderung nach organisationalen Schutzkonzepten entstammt ursprünglich der Debatte um sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Wer sich diesem Thema über die Perspektive der Betroffenen nähern möchte, findet im Internetportal der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs „Geschichten, die zählen“ zahlreiche eindrückliche Erfahrungsberichte.1 Dazu zählt auch die Fallgeschichte von „Nina“. Sie berichtet, wie sich der Leiter der örtlichen Musikschule ihr im Alter von zwölf Jahren erstmalig näherte, während sie ihr Instrument reinigte, von hinten an sie herantrat und ihr über Taille und Hüfte strich. Im weiteren Verlauf schmeichelte er ihr und ihren Eltern, räumte ihr Privilegien ein. Er nutzte einen Vorwand, um auch sexuelle Themen offen anzusprechen. Es kam wiederholt zu Grenzüberschreitungen und sexuellem Missbrauch, über Jahre hinweg.
Wer sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt auseinandersetzt, erkennt in diesem aufrüttelnden, individuellen Bericht viele typische Merkmale solcher Erfahrungen wieder. Grundsätzlich kann es um Situationen mit kleineren Grenzverletzungen, aber auch um strafrechtlich relevante Formen gehen. Gerade bei sexualisierter Gewalt gehen die Tatpersonen – mehrheitlich Männer, aber auch Frauen – gezielt vor, bauen Beziehungen nach dem Belohnungsprinzip auf, schaffen Tatgelegenheiten, sexualisieren den Kontakt zu den Heranwachsenden, manipulieren familiäre Bezugspersonen und sorgen für Geheimhaltung. Sie nutzen bestehende Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse aus.2 Die Betroffene „Nina“ berichtet zudem von Folgen und Symptomatiken, die ebenfalls typisch sind, beispielsweise selbstverletzendem Verhalten und Leistungsabfall. Und dass sie zwar einen Lehrer sowie ihre Musiklehrerin ins Vertrauen zog, doch die darauf teils folgenden Interventionen ergebnislos blieben, ist ein weiterer Hinweis auf fehlenden organisationalen Schutz.
Organisationale Perspektive auf Schutz
Die Autorin dieser Fallgeschichte vermutet berechtigterweise, dass sie „wahrscheinlich weder die Einzige noch die Letzte“ war. Mit Blick auf die Erkenntnisse insbesondere des vergangenen Jahrzehnts erscheint diese Vermutung in ihrer Tragik plausibel. Mit der Aufdeckung systematischer Übergriffe am Berliner Canisius-Kolleg kam im Jahr 2010 der sogenannte „Missbrauchsskandal“ ins Rollen, in dessen Verlauf unzählige weitere Fälle sexualisierter Gewalt ans Licht kamen, insbesondere im kirchlichen Kontext. Diese Entwicklung hat die Diskussion um sexualisierte Gewalt verändert und für eine Perspektiverweiterung gesorgt: von einer Täter-Opfer-Dynamik zu einer Täter-Opfer-Institutionen-Dynamik.3
Die Erkenntnis, dass sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen auch in organisationalen Kontexten stattfindet, warf die Frage auf, welchen Beitrag organisationale Rahmenbedingungen leisten, um Gewalt überhaupt zuzulassen, vielleicht sogar zu befördern. Positiv gewendet stellte sich aber auch die Frage, wie man diese organisationalen Bedingungen gestalten kann, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Ein Jahr nach dem genannten „Missbrauchsskandal“ fand diese Perspektiverweiterung ihren konkreten Niederschlag, als der „Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ der Bundesregierung in seinen Leitlinien 2011 erstmalig die Forderung nach trägerspezifischen Schutzkonzepten festhielt.4 Diese Idee wurde zunächst insbesondere bei kirchlichen Trägern mit einer hohen Verbindlichkeit und einem Fokus auf sexualisierte Gewalt umgesetzt.
Zehn Jahre später gab es einen weiteren Entwicklungsschritt: Im Rahmen des 2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) erfolgte für alle Einrichtungen, die eine Betriebserlaubnis benötigen, eine Pflicht zur Entwicklung eines Gewaltschutzkonzepts, das alle Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umfasst. Schutzkonzepte dieser Art werden heute inhaltlich umfassend verstanden als ein „Bündel an organisatorischen, pädagogischen und rechtlichen Maßnahmen, um die Einrichtung zu einem ‚sicheren Ort‘ für Mädchen und Jungen zu machen“.5 Dies geschieht in einem „Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Kommunikation sowie Haltung und Kultur einer Organisation“.6
Inhalte eines Schutzkonzepts
Es gibt verschiedene Empfehlungen für die inhaltliche Ausgestaltung von Schutzkonzepten, die jedoch zumeist die folgenden Bestandteile umfassen:7 Im Leitbild sollte das Selbstverständnis der Musikschule zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt festgeschrieben sein. Kernstück des Schutzkonzepts stellt ein gemeinsam entwickelter Verhaltenskodex dar, der allen Beteiligten einen Orientierungsrahmen für grenzachtendes Verhalten gibt. Ergänzt wird der Kodex durch Verfahrensrichtlinien, in denen ein festgeschriebenes Vorgehen für einen Verdachts- oder Mitteilungsfall skizziert wird, wie auch ein Rehabilitationsverfahren für nachweislich unbegründete Fälle. Kooperationen mit Fachberatungsstellen sollten dazu bereits unabhängig vom konkreten Vorfall aufgebaut und gepflegt werden.
1 www.geschichten-die-zaehlen.de/erfahrungsberichte/sexueller-kindesmissbrauch-freizeit-nina (Stand: 23.4.2023).
2 vgl. Bundschuh, Claudia: „Strategien von Tätern und Täterinnen in Institutionen“, in: IzKK-Nachrichten, Ausgabe 1/2007, Deutsches Jugendinstitut e.V., S. 13-16.
3 Wolff, Mechthild: „Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Institutionen. Perspektiven der Prävention durch Schutzkonzepte“, in: Willems, Helmut/Ferring, Dieter (Hg.): Macht und Machtmissbrauch in Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven auf institutionelle Kontexte und Strategien der Prävention, Wiesbaden 2014, S. 151-166.
4 Die Bundesregierung (Hg.): „Abschlussbericht Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“, Berlin 2011.
5 Bange, Dirk: „Schutz von Kindern und Jugendlichen in Institutionen“. Vortrag im Rahmen der Regionalkonferenzen „Sichere Orte schaffen“ in Schleswig-Holstein, 2015, https://docplayer.org/ 106851703-Schutz-von-kindern-und-jugendlichen-in-institutionen.html (Stand: 23.4.2023), S. 16.
6 Rörig, Johannes-Wilhelm: „Unterstützung, Bündnisse und Impulse zur Einführung von Schutzkonzepten in Institutionen in den Jahren 2012-2013“, in: Fegert, Jörg M./Wolff, Mechthild (Hg.): Kompendium „Sexueller Missbrauch in Institutionen“. Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention, Weinheim 2015, S. 587-601, hier: S. 587 f.
7 Dieser Artikel orientiert sich an der Empfehlung der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs für die Schutzkonzeptentwicklung an Schulen, abrufbar unter https://schule-gegen-sexuelle-gewalt.de/bestandteile (Stand: 23.4.2023) und der Arbeitshilfe des Verbands deutscher Musikschulen: „Musikschule: ein sicherer Ort! Arbeitshilfe und Materialsammlung zur Erstellung eines Schutzkonzeptes“, Bonn 2023 (in Vorbereitung).
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2023.