Warner, Theodor
Musische Erziehung zwischen Kult und Kunst
Revidierte und kommentierte Neufassung der Erstauflage von 1954 – eine Studienausgabe für Lehrende und Lernende, mit einem Vorwort von Christoph Richter
In der Reihe “Musikpädagogische Impulse” macht der Verlag eine Schrift wieder zugänglich, die vor 60 Jahren wohl eine der heftigsten Kontroversen in der Fachdiskussion hervorgerufen hat. Die Lösung vom Konzept der “Musischen Erziehung bzw. Bildung” führte damals zu einem radikalen Wandel in den zentralen musikdidaktischen Grundpositionen des Musikunterrichts an allgemein bildenden Schulen – mit weitreichenden Folgen, auch im engen Zusammenhang mit Adornos harscher Kritik an der Musikpädagogik seiner Zeit.
Die Reaktionen auf Warners Kritik waren besonders heftig, weil sich hier ein Vertreter der Jugendbewegung selbst, also ein Insider, kritisch mit der Frage auseinandersetzt, was “Musische Erziehung” als zentrale pädagogische Maxime bedeutet bzw. beinhaltet und wie sie sich in bestimmten Positionen sowie Erscheinungsformen darstellt und ideologisiert, was damals für einen Fachvertreter außergewöhnlich war.
Um diesen Sachverhalt zu erhellen, werden dem Text ergänzende Dokumente beigefügt: eine zeitnahe Kritik von Kurt Sydow (1954) sowie zwei weitere, spätere Beiträge von Warner selbst: “Wie ich Georg Götsch begegnete” (1969) und “Musische Bildung – ein Gespenst?” (1980), die einen tieferen Einblick in Warners biografische Erfahrungen und Gedankenwelt vermitteln. Kurt Sydow differenziert seine Kritik und sieht in Warners Schrift vor allem “eine Herausforderung zur Kritik an der Kritik”, die Diskussionsstoff in großem Maße bei vielen Themen biete, die “positiver Betrachtung wohl bedürften”, was auch heute noch, unabhängig vom verwendeten Vokabular, gelten kann.
Außerordentlich hilfreich sind die vom Verleger Burkhard Muth verfassten, jeweils in Fußnoten untergebrachten erklärenden Kommentare zu Autoren und ihren Werken, die Warner in großer Zahl zitiert. Wohl kaum dürfte heute noch als Allgemeinbesitz jene umfassende geistesgeschichtliche, kultur- und kunstgeschichtliche, musikalische etc. Bildung vorausgesetzt werden, die Warner in weitem Horizont abschreitet. Christoph Richter weist in seinem Vorwort zu Recht darauf hin, dass Warner sich “nicht nur als anthropologisch orientierter Musikpädagoge mit philosophischem Tiefgang [geriert], sondern sich mit seiner profunden Kenntnis der europäischen Geistesgeschichte als eine über den deutschen Sprachraum hinausblickende Person von ganz exzeptioneller Couleur [erweist]”.
Warners Sprache ist außerordentlich virtuos gestaltet. Wer sich an anspruchsvoller Sprachgestaltung erfreuen kann, wird seine Texte mit großem Genuss lesen, ganz gewiss auch ein freundlicher Zwang zum Mitdenken. Warners Kritik, um nur einige wichtige Akzente herauszugreifen, entzündet sich vor allem am Begriff der “Musischen Ganzheit”, seiner Idealisierung sowie Ideologisierung; an der Diskrepanz zwischen Begriff und Inhalt; an der Feminisierung der Rhythmischen Gymnastik; am Manierismus in der Text- und Liedgestaltung; am Musischen Positivismus etc.
Welcher Nutzen kann heute aus der Lektüre eines Buches gezogen werden, das eine Situation beschreibt, die zwei Generationen zurückliegt? Es handelt sich zunächst um eine für die Musikpädagogik wichtige historische Quelle, deren Kenntnis auch für gegenwärtige Fragen Bedeutung hat und die über die konkreten, auf ihre Zeit bezogenen Ziele hinaus – trotz ihres heute nicht mehr allgemein gängigen Vokabulars – grundsätzliche musikpädagogische Maximen anspricht, z. B. die Vermeidung eines naiven, unkritischen Gebrauchs musikpädagogischer Leitbegriffe. Wie weit beinhaltet die Musikpädagogik Geschichte, Gegenwart und Lebenswirklichkeit – und welche, angesichts der immer rasanteren Aufspaltungen in Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur und Kunst? Wie sind musikpädagogische Inhalte beschaffen? Wie sieht es mit dem Geschichtsbewusstsein in der Musikpädagogik aus? Dies ließe sich weiterführen.
Die Herausgabe der Schrift Theodor Warners ist insgesamt sehr verdienstvoll. Angemerkt sei noch, dass Warners Geburtsort nicht Jöteborg, sondern Jüterbog heißt.
Günther Noll