Lessing, Kolja

Mut zum Abseits!

Repertoire im Wandel der Zeiten, Zwänge und Entdeckungen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 12

Unser musikalisches Repertoire ist ­riesig – und doch ist nur ein kleiner Teil davon im Unterricht und Konzertsaal lebendig. Wie hat sich das Repertoire in den vergangenen beiden Jahrhunderten entwickelt? Welche einengende Rolle kommt Probespielen und Wettbewerben zu und wie lässt sich ein selbst­bestimmtes Repertoire finden?

„Raritäten der Klaviermusik“, „Komponistinnen und ihr Werk“, „Verfolgung und Wiederentdeckung“ – ja, es gibt sie: Konzertreihen, die so eminent wichtige, unser kulturelles Gedächtnis belebende Ausbrüche aus dem repetitiven Hamsterrad des klassischen Musikbetriebs wagen. Die heute oft beklemmende Einengung auf ein limitiertes Repertoire vermeintlicher Standardwerke ist umso erstaunlicher in einer Zeit, in der Kompositionen aller Epochen so leicht wie nie zuvor sowohl als Notentext wie auch als Aufnahme über digitale Medien verfügbar sind. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Wo liegen die Ursachen – und welche Wege könnten aus der Sackgasse herausführen?
Meine Betrachtungen resultieren aus einer vier Jahrzehnte umspannenden Konzerttätigkeit als forschender Geiger und Pianist. Sie wurzeln in einer fast ebenso langen Erfahrung als Hochschullehrer und Gastdozent an zahlreichen Institutionen für Musikausbildung im In- und Ausland. So gelten diese Exkurse zuvörderst der professionellen Ausübung abendländischer Kunstmusik, wie sie an europäischen Musikhochschulen gelehrt und im Konzertleben praktiziert wird. Die Fokussierung auf die mitteleuropäische Situa­tion schließt indessen keineswegs den Blick auf außereuropäische musikalische Entwicklungen aus, deren Kenntnis für den Aufbau und die Erweiterung eines individuellen ins­trument- bzw. ensemblespezifischen Repertoires faszinierende neue Perspektiven eröffnet. Nicht wenige der im Folgenden erörterten Aspekte einer vielseitig orientierten, von unermüdlicher Neugier geleiteten Gestaltung des Repertoires gewinnen bereits in der Musikschulpraxis prägende Bedeutung. Hier können erste grundlegende, inspirierende Erfahrungen mit Werken auch jenseits des Alltäglichen vermittelt werden. Dies wäre ein erfrischender Ausbruch aus der drohenden Wiederholung einer kleinen Anzahl von Stücken, die dann beispielsweise bei „Jugend musiziert“ ein lähmendes Konkurrenzgefühl aufkommen lassen…

Historisch orientiertes Repertoire

Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde ausschließlich zeitgenössische Musik aufgeführt – im höfischen Rahmen ebenso wie im sakralen Raum. Musik entstand gleichsam für den Tagesbedarf, noch gab es keine Trennung zwischen Komponist und Interpret. Mit der Rückbesinnung der Romantik auf vergangene Epochen, insbesondere mit der ab 1830 langsam einsetzenden Wiederentdeckung der Werke Johann Sebastian Bachs und nicht weniger seiner Zeitgenossen, erweitert sich schlagartig das musikgeschichtliche Bewusstsein, mithin das Repertoire der sich als eigenen Berufsstand etablierenden reisenden Virtuosen.
Dieser Berufsstand bleibt zunächst eine Männerdomäne, aus der einzelne Künstlerinnen wie die Geigerin Regina Strinasacchi, die Harfenistin Dorette Spohr und vor allem die in späteren Jahren Repertoire bestimmende Pianistin Clara Schumann herausragen. Mit der Etablierung der ersten professionellen Musikausbildungsinstitute erfolgt zwangsläufig eine erste Kanonisierung von Werken, zugleich eine erste editorische Erschließung Alter Musik und die Entstehung pädagogischer bzw. instruktiver Musik zum Gebrauch an den Konservatorien – als Vorläufer der heutigen Musikhochschulen.
Auffallend ist, dass eine bis heute nachwirkende Kanonisierung von speziellem Repertoire für einzelne Instrumente bereits im späten 19. Jahrhundert durch künstlerisch wie pädagogisch gleichermaßen exponierte Persönlichkeiten geprägt wurde: im Bereich der Klaviermusik durch Clara Schumann, in geigerischer Hinsicht ebenso wie in Hinblick auf die Gattung Streichquartett durch Joseph Joachim, dessen virtuose, stilistisch jedoch anachronistische Mozart-Kadenzen bei manchem Orchester noch heute conditio sine qua non für Probespiele darstellen! Im Bereich des Klarinettenrepertoires setzte der legendäre Meininger Klarinettist Richard Mühlfeld lange nachwirkende Akzente.
Mit dem enormen Anwachsen des Repertoi­res gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch ein ebenso zeitgenössisch wie auch historisch orientiertes Konzertleben erfolgte zwangsläufig eine Selektion nach den Bedürfnissen des Zeitgeschmacks. Manche der Komponisten, deren höchster Rang heute unbestritten ist, blieben im Konzertleben lange marginal und wurden letztlich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kanonisiert – das gilt für Joseph Haydn und Franz Schubert, im Bereich der Barockmusik besonders für Georg Philipp Telemann, Antonio Vivaldi und Jan Dismas Zelenka.

Ausgrenzungen ab 1933

Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war die Ausprägung des Instrumentalrepertoires sowohl durch individuelle Präferenzen prominenter Künstlerpersönlichkeiten als auch durch gewisse Modeströmungen bestimmt. Die Konzertprogramme spiegelten das unterschiedliche Profil der Künstlerpersönlichkeiten mit ihren jeweiligen Vorlieben für anspruchsvolle Werke bzw. Werkzyklen oder für eher leichtes, unterhaltsames Repertoire – zu einer Zeit, als die kategorische Trennung zwischen sogenannter E- und U-Musik noch ebenso wenig existierte wie die zwischen zeitgenössischer und historischer Musik.
Nach heutigen Maßstäben neigten die meisten damaligen Programme zur Überlänge.

Die Abbildung zeigt das Programm eines Klavierabends von Arthur Rubinstein von 1948. In seiner außerordentli­chen Länge und musikalischen Vielfalt reflektiert es noch den Geist des frühen 20. Jahrhunderts; Werke von Zeitgenossen Rubinsteins eröffnen in der zweiten Programmhälfte ein ebenso selbstverständliches wie abwechslungsreiches Panorama neuerer Klaviermusik.
Nur in Ausnahmefällen erklangen Werke von Komponistinnen, es sei denn, sie traten in Personalunion auch als Pianistinnen mit ihrer Musik an die Öffentlichkeit wie Clara Schumann, Cécile Chaminade, Marie Jaëll oder Ilse Fromm-Michaels. Indessen blieb der Reichtum des Repertoires in vielen Facetten lebendig, bis die 1920er Jahre mit der Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) und vielen ihrer lokalen Sektionen eine neue Separation des Konzert­repertoires mit sich brachten.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2023.