Wienhardt, Peter von

Nach dem Klavierstudium ist oft vor der Erkenntnis der Realität

Pilotprojekt „Klavier aktuell“ an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2010 , Seite 34

Nach neueren Erkenntnissen leben in unserem Land maximal 30 deutsche Pianistinnen und Pianisten, die in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt ausschließlich und dauerhaft durch das Konzertieren zu bestreiten. Bei bundesweit 27 Musikhochschulen ergeben sich selbst bei einer sehr vorsichtigen Schätzung pro Jahr etwa 400 AbsolventInnen im Fach Klavier, die voller Hoffnung und Tatendrang auf den äußerst begrenzten Arbeitsmarkt drängen. Für die wenigsten von ihnen wird der Traum einer Solokarriere wahr; statt­dessen sind die meisten AbsolventInnen mit dem Spiegel der Realität konfrontiert, der ­ihnen ungeschminkt die realistischen Verdienstmöglichkeiten aufzeigt: Diese sind in den allermeisten Fällen auf dem Sektor des Unterrichtens zu finden.
Doch zunehmend strahlen die Folgen gesellschaftlicher und bildungspolitischer Veränderungen auch in den musikalischen und musikpädagogischen Bereich ab und fordern ein tief greifendes Umdenken. Neue Schulstrukturen, aber auch der vielfach von Schülerseite geäußerte Wunsch, aktuelle Musikstile und Strömungen in den Unterricht einzubeziehen, verlangen mehr denn je eine enorme Flexibilität seitens der Lehrerschaft, gepaart mit der erforderlichen fachlichen Kompetenz sowie kreativen inhaltlichen und methodischen Konzepten. Diese werden in den Musikhochschulen jedoch momentan nur unzureichend vermittelt bzw. stecken in den Kinderschuhen. Der pädagogischen Schwerpunktsetzung in der höheren Musikausbildung haftet unter den Studierenden leider noch immer das nur schwer auszuräumende Vorurteil an, dass diesen Weg nur diejenigen gehen – und dies in den seltens­ten Fällen freiwillig oder gar aus beruflicher Passion –, deren pianistische Fähigkeiten für eine Solokarriere nicht ausreichen. Gerade in dieser Hinsicht kann das Postulat des Umdenkens nicht laut genug gefordert und die Forderung nach einer pädagogisch hochwertigen Ausbildung nicht oft genug postuliert werden.
Sitzt nun eine ausgebildete Pianistin oder ein ausgebildeter Pianist nach Abschluss des Studiums auf einem Lehrstuhl egal welcher Couleur – sei es als Vertretungskraft in einer Musikschule der ländlichen Region oder als Professorin einer angesehenen Musikhochschule in einer Großstadt –, so ist dies für die meisten „nur“ der Plan B: Eigentlich träumten sie doch alle von der großen Solisten­karriere. Durch die eigene Ausbildung mehr oder weniger auf die bevorstehenden päda­gogischen und didaktischen Herausforderungen vorbereitet, wollen diese nun bewältigt werden. Die Konfrontation mit der Realität des Unterrichtens und den entsprechenden Anforderungen sind oft ein harter Stein der Erkenntnis, denn für viele der AbsolventInnen fand während der eigenen Ausbildung keine Auseinandersetzung mit den aktuellen Anforderungen des Repertoires geschweige denn mit den Anforderungen dieser Klientel statt. Entsprechend hoch sollte die Frustra­tionsgrenze der jungen MusikschullehrerInnen gesteckt sein, was aber erfahrungsgemäß nicht immer gelingt und in negativer Auswirkung oft die Gefahr birgt, sich auf den Unterricht auszuwirken. Auch setzen in den Universitäten Verkrustungen ein, die nur mit Mühe wieder aufzubrechen sind und die sich in den Klassen „weitervererben“.
Es ist auch Aufgabe der Musikhochschulen, zur Lösung der momentanen Bildungsdebatte beizutragen und den gelebten Elfenbeinturm des Hehren, Wahren und letztendlich Selbstbetrogenen zu verlassen, der nur der eigenen Erhaltung dient – doch dazu müsste man sich den Realitäten stellen. Einzelne Ansätze zur Veränderung sind erkennbar, sie scheinen jedoch mit dem Tempo des Fortschreitens der Anforderungen nicht mithalten zu können oder zu wollen.
Zugeschnitten auf diese besonderen Bedürfnisse hat die Bundesakademie für musika­lische Jugendbildung Trossingen mit ihrem Pilotprojekt „Klavier aktuell“ erstmalig ein umfassendes Gesamtkonzept aufgestellt, das sowohl pädagogische als auch künstlerisch aktuelle Fragestellungen integriert. Ziel dieses berufsbegleitenden Lehrgangs ist die Vermittlung neuer Impulse und methodischer Werkzeuge für einen zeitgemäßen Klavierunterricht. Er soll Mut machen, sich in vielfältiger Weise mit allen Stilen der Klaviermusik zu beschäftigen. Hier Beispiele der Kursinhalte dieser Neukonzeption: Verfahren und Tricks des virtuosen Klavierspiels, Umgang mit Notations- und Kompositionssoftware, strukturelles Hören, Lernmethoden und Lerntypen, Blattspiel Basics, Möglichkeiten und Grenzen des Digitalpianos im elementaren Klavierunterricht, Pedal, Sitz und Atmung, Unterrichtsplanung und Lehrplan, Audio Sequenzer im Klavierunterricht, Übungen und Etüden komponieren, Liedbegleitung, Begleitpatterns und Grooves, intuitive Transposition, Literaturempfehlungen, Stilkunde, Klavier und Keyboard in der Popularmusik und vieles mehr.
Musikalisches Lernen und spieltechnische Entwicklung können Mozart, Keith Jarrett, der aktuelle Chart-Hit oder eigene Kreationen gleichermaßen bieten. Vor allem der bewusste und kreative Umgang mit den verschiedenen musikalischen Stilen und das Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten wird in spannender Weise das Spektrum des Klavierunterrichts erweitern.
Diese komplexen Inhalte werden von einem qualifizierten Dozententeam vermittelt: Seine vielfältige Erfahrung auf dem Gebiet Jazz-Rock-Pop und Kenntnisse in fachspezifischen Vermittlungsmethoden bringt Philipp Moehrke in praxisorientierter Weise in diesen Lehrgang ein. Jörg Schweinbenz von der Universität der Künste Berlin eröffnet den Blick auf die mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten des Fachs „Schulpraktisches Klavierspiel“ in den Instrumentalunterricht. Der Künstler als Pä­da­goge steht im Mittelpunkt der Arbeit von Peter von Wienhardt, Professor an der Hochschule für Musik in der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der damit einen Bogen zwischen Konzertsaal und Unterrichts­raum schlägt.
Mit ihrem Lehrgang „Klavier aktuell“ möchte die Bundesakademie sich an alle interessierten InstrumentalpädagogInnen aus Musikschulen, Hochschulen und dem privaten Sektor gleichermaßen richten und gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern – dem Verband deutscher Musikschulen und der Hochschule für Musik in der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster – Impulse für einen zeitgemäßen Klavierunterricht vermitteln sowie KlavierpädagogInnen bei aktuellen und zukünftigen beruflichen Herausforderungen begleiten und unterstützen.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2010.