Röbke, Peter
Nachhaltiger, besser, gerechter?
Überlegungen zur Musikschule in Zeiten der Krisen
Wir sind in einer Weise, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar war, mit einer Fülle von Krisen konfrontiert: Wer hätte damals gedacht, dass eine weltweite Pandemie nicht nur Krankheit und Tod mit sich führen, sondern auch soziale Isolation und eine massive Beeinträchtigung unserer Berufsausübung bedeuten würde? Oder dass in Europa ein Krieg tobt, der uns in unserer Solidarität fordert und Opfer abverlangt?1
Einzig die Klimakatastrophe hätte uns schon seit Langem aufgrund unzähliger Warnungen und Prognosen bewusst sein können und sollen: Dazu hätte es des vergangenen Hitze- und Waldbrand-Sommers nicht bedurft. Und dass die im Gefolge des Klimawandels eintretende Versteppung riesiger Gebiete die Migration antreibt, das heißt Menschen, deren Felder vertrocknen, auf die gefährlichen Fluchtrouten treibt, ist ebenfalls keine neue Erkenntnis.
Ich gehe davon aus, dass diese Lage mehr und mehr auch unseren der Musik und ihrer Vermittlung gewidmeten Alltag betreffen und verändern wird, ich bin überzeugt, dass sich das Krisenhafte nicht nur auf anderen Schauplätzen abspielt, sondern in unser professionelles Kerngeschäft eingeht, das heißt in das Zentrum unseres beruflichen Handelns vorstößt: Dabei wird sich zeigen, dass Krisen immer „Wendepunkte“ sind, also Entscheidungssituationen, denen eine Lösung oder eine Verschärfung der Krise folgen können.
Fragen wir zunächst, in welchen Bereichen die Krisen Probleme verschärft haben (und ich beziehe mich auf die Erfahrungen in der COVID-Pandemie).
– COVID hat das Gerechtigkeitsproblem zugespitzt. Man denke nur an die fehlenden Laptops in der Regelschule und die SchülerInnen aus ärmeren Familien, die in den verschiedenen Lockdowns tatsächlich abgehängt und schlicht nicht mehr gesehen wurden!
– COVID hat uns zum Innehalten gezwungen und uns mit der Nase auf den Umgang mit den natürlichen Ressourcen gestoßen: Wir erkannten, dass manche Sitzungen in Präsenz wirklich nicht notwendig sind und in digitaler Distanz viel besser laufen oder dass Dienstreisen oft eine Verschwendung darstellen; wir erinnern uns an die Schönheit des leeren Venedigs und an die aufpoppenden neuen Radwege in der Großstadt!
– COVID hat uns den Charme des Regionalen neu entdecken lassen: Erleichtert stellten wir fest, dass unsere Ernährung durch regionale Erzeuger und deren Produkte sichergestellt ist und wir in vielem nicht auf globale Lieferketten angewiesen sind!
– COVID hat uns zu einem Crashkurs in digitaler Kommunikation gezwungen: Wie froh waren wir, wenigstens via Zoom Kontakt halten zu können.
– COVID hat jedenfalls zunächst die Aufmerksamkeit auf die systemrelevanten Tätigkeiten und die Frage nach einem neuen Umgang mit dem gesellschaftlichen Wert von Tätigkeiten aufgeworfen (Gesundheits- und Pflegeberufe, Lebensmittelversorgung…).
– Was die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts anbelangt, ist die Bilanz durchwachsen: Einerseits haben wir viel an Solidarität entwickelt, andererseits hat COVID das Querdenkertum hervorgebracht und gesellschaftliche Spaltungen erzeugt, die bis heute anhalten.
Aber diese Krisen zwingen auch uns, auf Fragen, die in unserer eigenen professionellen, also der musikpädagogischen Domäne schon längst da waren, neue Antworten zu geben und damit Chancen zur Lösung von Problemen wahrzunehmen.
– Stichwort Nachhaltigkeit: Angesichts der Taxidienste von Papa und Mama und angesichts von Beschäftigungsverhältnissen, bei denen ein Führerschein oft Anstellungsbedingung ist: Wie viel unnötigen Verkehr erzeugen wir?
Und was sich daraus ergibt:
– Stichwort Charme des Regionalen: Wie intensiv gestalten wir als künstlerisches (und nicht nur pädagogisches) Kompetenzzentrum das regionale Kulturleben mit – und zwar auf eine professionelle und nicht auf eine provinzielle Weise?
– Stichwort digitale Möglichkeiten bzw. präziser: Verknüpfung von Unterricht in der Musikschule und häuslicher Übesituation – eine Frage, die ins Herz des instrumentalpädagogischen Tuns zielt: Was wissen wir eigentlich wirklich über das häusliche Üben unserer SchülerInnen und wie können wir dieses positiv beeinflussen?
– Stichwort Gerechtigkeit: Ist die Musikschule wirklich für alle da? Wo sind die SchülerInnen aus armen Familien oder solche mit Migrationshintergrund, haben SchülerInnen mit Behinderungen wirklich alle Chancen? Sind erwachsene Instrumental- und GesangsschülerInnen und Ensemblemitglieder wirklich willkommen?
Ein besseres Leben vorstellen
Bei der vorläufigen Suche nach Antworten fokussiere ich im Folgenden durchgehend auf die Ressourcen- und Nachhaltigkeitsfrage, allein schon deswegen, weil angesichts der möglichen Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlagen etwa eine Pandemie das weitaus kleinere Problem wäre.2
1 Die folgenden Zeilen stellen zum einen die verkürzte Version eines Vortrags dar, der zur Schuljahreseröffnung 2022 auf Versammlungen aller Lehrenden in Südtirol und Vorarlberg gehalten wurde, zum anderen eine Replik auf Bernhards König Beitrag „Klimawandel in der Musikschule“, in: üben & musizieren, 1, 2023, S. 10-14; sie verstehen sich als Weiterführung und Einspruch zugleich.
2 Ich beziehe mich hier nicht nur auf Bernhard Königs Beitrag „Klimawandel in der Musikschule“ (a. a. O.), sondern vor allem auf seinen fundamentalen Text „Monteverdi und der Klimawandel. Wie die Musik auf eine globale Herausforderung reagieren könnte“, in: neue musikzeitung, 9, 2019, www.nmz.de/artikel/monteverdi-und-der-klimawandel (Stand: 28.6.2023).
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2023.