Rademacher, Ulrich

Neues Gewicht

Inklusion verrät den "alten" Bildungsauftrag nicht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2014 , Seite 44

Bildungsauftrag ade? Im Gegenteil! Gerade durch das Thema Inklusion erhält er neue Aktualität und neues Gewicht. Die Musik bleibt dabei, was sie immer war: Weg und Ziel, heilige Kunst – “höher als alle Weisheit und Philosophie” – und Werkzeug zugleich.

Mit ihrer aufrüttelnden Frage „Bildungsauftrag ade?“ spricht Anja Bossen sicherlich vielen besorgten und frustrierten MusikpädagogInnen aus der Seele. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag in einer sehr grundsätzlichen Diskussion um das Thema Identität und Bildungsauftrag, die die öffentlichen Musikschulen spätestens seit dem Start von JeKi in NRW begonnen haben, die auf der Haupt­arbeitstagung in Potsdam weitergeführt wurde, die auf dem VdM-Herbstsymposion in ein den neuen Rahmenbedingungen Rechnung tragendes Leitbild münden soll und schließlich, so mein großer Wunsch, spätestens zum Kongress „Erbe – Vielfalt – Zukunft“ 2015 in Münster eine Einheit in Vielfalt unter den Musikschulen erkennen lässt und damit neue Kräfte freisetzt.
Wir Musikpädagogen und Musikgestalter haben eine Stärke und Schwäche zugleich, die uns an einen Punkt geführt hat, der sehr, sehr gefährlich ist, der alles, was wir erreicht haben, wie eine Blase platzen lassen oder abstürzen lassen kann. Ganz einfach: Wir haben lange versucht und es auch immer wieder geschafft, das musikpädagogisch Mögliche und bildungspolitisch Notwendige umzusetzen, als musikpädagogische „Triebtäter“ allzu oft ohne klaren Blick auf unsere Ressourcen. Mit den Konsequenzen von Selbstausbeutung und möglichen Qualitätseinbußen in den Feldern, die einmal unsere Stärke waren: in der individuellen Förderung musikalischer Begabung, in der Förderung des Ensemblespiels und der Vorbereitung auf ein Hochschulstudium. Das ist unverantwortlich den Kindern, den Lehrkräften und der Gesellschaft gegenüber!

Grundrecht auf ­musikalische Bildung

„Jedem Kind“, so heißt es so schön in vielen Programmen, jedem Kind, dem wir mit dem Anspruch auf Inklusion einen Zugang, eine Tür zur Musikschule geöffnet haben, sind wir – zumindest perspektivisch – eine anschließende individuelle Förderung nach dem „state of the art“ schuldig. Das können die Kommunen nicht alleine schultern. Da sind nach meiner Überzeugung die Länder zumindest mitgefragt. Das heißt zum Beispiel auch, Grundlage für eine Landesförderung kann nicht nur die Schülerzahl sein, auch qualitative Aspekte wie Ensemblestunden, Theorie oder zusätzlicher Instrumentalunterricht müssen Berücksichtigung finden. Trotzdem: Inklusion verwässert und verrät den „alten“ Bildungsauftrag nicht. Die Potsdamer Erklärung präzisiert und konkretisiert.
Inklusion ist nach meiner Überzeugung eine Haltung, der wir uns als Musikschulen gar nicht verweigern können, ohne grundsätzlich die Kraft und den Zauber von Musik in Frage zu stellen. Denn: Jenseits allen Streits über die Prioritäten, das Zentrum, den Kern unserer Arbeit sind sich Musikschulen und ihre Träger einig: Wir wollen und sollen Teilhabe ermöglichen, auch (noch!) ohne Verankerung im Grundgesetz. Wir glauben an die Musik als Teil des Menschen. Schon vor dem ersten und bis zum letzten Atemzug des Menschen ist Musik die Verbindung des Individuums zur Welt, ermöglicht uns Musik die tiefsten Eindrücke und die berührendsten Ausdrucksmöglichkeiten. Sie lehrt uns, die Welt zu verstehen: emotional und rational. Nicht nur die Hirnforscher lehren uns jedes Jahr Erstaun­liches und Neues über die Kraft der Musik.
Wenn das alles so ist, wenn die Musik so entscheidend für jede „Mensch-Werdung“ ist, dürfen wir sie keinem vorenthalten, müssen wir von einem Grundrecht auf musikalische Bildung sprechen, das keinem verweigert werden darf. Teilhabe daran zu ermöglichen, kann also nur inklusiv gemein sein! Nicht als Programm der Klugen, Fitten und Guten für durch Behinderung, Krankheit, Alter, Herkunft und hinderliche Rahmenbedingungen benachteiligte Menschen. Sondern aus einer Haltung heraus, die von Anfang an alle Menschen mitdenkt, auch die, die als „Bildungsferne“ ohne eine Idee vom Wert der Bildung gar nicht zu uns kommen wollen können!
Wenn wir von vier Aspekten der Inklusion sprechen, tun wir das nicht, um Menschen in Schubladen einzuteilen, das wäre das Gegenteil von Inklusion, sondern um keinen zu vergessen und um die Diversität der Rahmen- oder Gelingensbedingungen klar im Blick zu haben: für Behinderte, Fremde, Alte und durch schulische Rahmenbedingungen gehinderte Kinder und Jugendliche. Menschen mit Behinderung sind auf eine besondere Weise ansprechbar mit Musik. Dies bietet besondere Chancen. Menschen mit Behinderung haben oft eine besondere Verbindung von Fantasie, Sensomotorik und Ausdruckswillen und können sich oft weniger „verstandesbehindert“ auf die Musik einlassen als manches sich ständig selbstreflektierende Kind. Die den ganzen Menschen ergreifende Musik bietet viel mehr Möglichkeiten des gemeinsamen Lernens als rein kognitives Lernen. Dafür wollen und müssen wir uns qualifizieren und die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. In Kooperation mit allgemein bildenden Schulen, aber auch in den eigenen Programmen – wie besonders bei der Ensemblearbeit.

Was Musik kann

Kulturelle Vielfalt als Schatz, als Reichtum zu begreifen, ist nicht selbstverständlich. Wir sollten uns aber darauf besinnen, dass Entscheidendes in der Entwicklung der Musik – auch unserer abendländischen – angestoßen wurde, gewachsen und aufgeblüht ist durch die Befruchtung mit Neuem, Fremdem, Unerhörtem. Seit Gründung des VdM war neben Vermittlung tradierter und aktueller Musikkultur die Förderung von eigener wie fremder Volk(s)musik und Folklore wichtiges Merkmal von Musikschularbeit. Umgesetzt wurde dies dort, wo charismatische Pädagogen und Künstler dafür brannten oder wo die Bevölkerungszusammensetzung vor Ort danach verlangte. Durch die UNESCO-Konvention zur Kulturellen Vielfalt und die Herausforderungen der Inklusion erhält das Thema nun flächendeckend neue Relevanz.
Der VdM hat sich in letzter Zeit neben der Frage, was Musik von Anfang an kann, mit den Chancen beschäftigt, die Musik bis zum Schluss besser, wirkungsvoller, menschlicher und beglückender bietet als manches medizinische oder therapeutische Anti-Aging-Placebo. Auch hier geht es uns MusikerInnen, das möchte ich besonders betonen, um mehr als nur um das Werkzeug Musik! Genauso wie wir inzwischen erkannt haben, dass wir unsere Musikerseele verkaufen würden, wenn wir Kindern die Musik nur deshalb näherbringen, damit sie schneller rechnen, besser sprechen lernen oder geduldiger, tole­ranter und gesünder werden. Auch im Alter geht es uns zuallererst darum, den Menschen ­einen zentralen Teil ihres Mensch-Seins ­bewahren, entdecken oder wiederentdecken zu helfen. Mit Hilfe von allen Erkenntnissen und Erfahrungen der Pflege, der Medizin, Sozialwissenschaften, Pädagogik oder auch Technik.
PISA wurde von der Wirtschaft „bestellt“. Kein Wunder, dass im Fokus vor allem die MINT-Fächer standen. Wer aber den ganzen Menschen im Blick hat, wird einer Denk- und Sichtweise misstrauen, die mit Mathe, Ingenieurswissenschaft, Naturwissenschaft und Technik Kinder möglichst früh für die Herausforderungen eines geschmeidigen und dynamischen Wirtschaftslebens konditionieren will. Wir bauen auf ein anderes Menschenbild, das den ganzen Menschen sieht, mit Geist, Körper und dem, für das es in der deutschen Sprache das schöne und noch nicht so pädagogisch verbrauchte Wort „Gemüt“ gibt. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die sich zurzeit in allen Lebenszusammenhängen breit machende utilitaristische Grundhaltung!
Unsere Gesellschaft lebt von ganzen Menschen, die fühlen, was sie denken, die reflektieren, was sie fühlen, die verantworten, was sie können. Wenn ich sage, Musik könne im Ganztag als „Katalysator“ für die bessere Mathe-Stunde danach wirken, will ich damit nicht die Bedeutung der Musik begründen, sondern lediglich für eine Integration von Musikunterricht in den rhythmisierten Ganztag, auch und gerade am Vormittag, werben.

Strukturplan des VdM gilt weiterhin

Was daran ist neu, wo ist hier der Unterschied zwischen „politischem“ und „pädagogischem“ Bildungsauftrag? Wenn Anja Bossen mit dem „politischen“ Bildungsauftrag das meint, was ich oben in Zusammenhang mit Utilitarismus gebracht habe, einen für uns Musikpädagogen „fremdbestimmten“, die wirklichen Chancen musikalischer Bildung verspielenden Masse-statt-Klasse-Aktionismus, wenn sie davor warnen will, dass wir „Bildungsfernen“ Hoffnung auf ein Leben im „gelobten Land“ mit Musik machen, um sie dann in überfüllten „Flüchtlingslagern“ verhungern zu lassen, dann teile ich ihre ­Sorge. Das aber wäre eine Perversion von Inklusion!
Unser Strukturplan, in dem unsere Verantwortung in der kommunalen Bildungslandschaft klar beschrieben ist, gilt weiterhin. Die Herausforderung an die Musikschulen und ihre Träger, die Balance zwischen der Verantwortung für neue Zugänge auf der einen Seite und der damit verbundenen Verantwortung für entsprechende Kapazitäten qualitätvoller Anschlussförderung ist allerdings größer geworden. Der Druck steigt, zusätzliche Aufgaben trotz stagnierender oder schrumpfender finanzieller Spielräume ohne Qualitätseinbußen zu übernehmen.
Hier muss der VdM in seiner Verantwortung als Fachverband die Kommunen und Länder als seine Träger oder Förderer davor warnen, den Bogen zu überspannen. Neue Zugänge kosten Geld. Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif. Zusätzlich ist aber auch Geduld und langer Atem gefragt. Die Hochschulen brauchen Zeit, um einen Nachwuchs auszubilden, der auf die neuen Aufgaben so vorbereitet ist, dass er sich ihnen erfolgreich und mit Freude stellt. Und der Beruf des Musikpädagogen muss durch entsprechende Stellen oder durch entsprechende Honorare wieder so attraktiv werden, dass es überhaupt ausreichend Bewerbungen um die Studienplätze gibt. Beim vergangenen Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ habe ich mit vielen wunderbar talentierten jungen Menschen gesprochen, für die eine pädagogische Tätigkeit durchaus eine interessante Zukunftsoption wäre. Aber nicht als Patchwork-Honorarkraft mehrerer Musikschulen in der „Pampa“ für ein Honorar von 15 Euro, wo Elektriker oder die Karosseriewerkstatt oft weit über 50 Euro verlangen.
Die derzeit tätigen aktiven MusikpädagogInnen sind in gewisser Weise von ihren Arbeitgebern abhängig und damit eine Zeit lang erpressbar. Sie übernehmen dann Aufgaben, für die sie oft nicht ausgebildet sind und die über ihre Kräfte gehen. Das ist nicht menschenwürdig und beschädigt den Berufsstand, zum Schaden aller Betroffenen: Lehrkräfte, Kinder, Musikschulen und an Nachhaltigkeit und Qualität interessierte Träger.
Für die Verhandlungen der Musikschulen mit ihren Trägern muss gelten, dass die Übernahme zusätzlicher neuer Aufgaben nur mit zusätzlichen Haushaltsmitteln machbar ist. „Kreative“ Lösungen durch Verschiebung von Prioritäten stoßen schnell an Grenzen, wenn man die Werte Qualität und Nachhaltigkeit nicht aufgeben will. Für diese anspruchsvolle Balance brauchen Musikschulen und ihre Träger Orientierung. Die haben sie im Strukturplan, dem Positionspapier der Kommunalen Spitzenverbände „Hinweise und Leitlinien“, dem KGSt-Gutachten und schließlich der neuen Potsdamer Erklärung. Für deren „Auslegung“ oder Anwendung im Lichte der konkreten Rahmenbedingungen vor Ort stehen Bundesverband und Landesverbände mit Schulungen und individuellen Beratungsangeboten zur Verfügung.