Frank, Richard
Omnipräsentes Klavier
Gedanken zur Rolle des Klaviers und der Klavierpädagogik in Japan
Wie kam es zu der flächendeckenden Popularität des Klaviers, dieses doch so typischen europäischen Instruments im Fernen Osten? Gedanken und Erfahrungen eines in Japan lebenden mitteleuropäischen Klavierpädagogen.
Kommt man zum ersten Mal nach Japan, fällt einem auf, dass hier und da Klavierspiel ertönt. Sei es in der Bahnhofshalle, wo gerade ein Passant auf einem öffentlich zugänglichen Klavier spielt – selbstverständlich steht seit Corona ein Desinfektionsmittel neben der Klaviatur –, sei es aus dem Lautsprecher in der Einkaufsstraße, im Warenhaus, im Family-Restaurant. Stellt man den Fernseher im Hotel frühmorgens an, offeriert die Rundfunkgesellschaft Nippon Hoso Kyokai (NHK) Morgengymnastik zu Live-Klavierbegleitung. Man kann dem Klavierklang, egal in welcher Art – ob Chopin oder Mozart, Jazz, im Anime oder in der Game Music –, nicht entfliehen.
Wie kommt es, dass ganz Japan selbst in der Provinz fantastische Konzerthallen unterhält, in denen meist ein Steinway- oder (zusätzlich) mehrere Yamaha-Konzertflügel stehen? Wie kommt es, dass seit Generationen fast jede Familie über ein eigenes Klavier im Wohnzimmer verfügt, zugedeckt mit einem weißen Tuch? Und wie kommt es, dass bereits im Kindergarten und an allen Schulen ein Klavier oder Flügel steht?
Erzwungene Öffnung
Der drohenden Kolonialisierung durch eine westliche Macht entging Japan Mitte des 19. Jahrhunderts durch die erzwungene Öffnung seiner Häfen. Damit war das Tor für eine Wirtschaftspolitik nach westlichen Prinzipien geöffnet. Dieses Jahr feiert z. B. die Schweizer Botschaft in Tokio 160 Jahre bilaterale Beziehungen zwischen der Schweiz und Japan. Japans Eifer, möglichst schnell dem Westen ebenbürtig zu werden und so seine politische Unabhängigkeit zu bewahren, führte dazu, dass Japan – dem Vorbild des Westens folgend – begann, naheliegende Überseeländer zu kolonisieren. Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg führte schließlich zur „Heirat“ mit den USA. Unter dem Schutz seines mächtigen Bräutigams konnte sich das Land zu großem Wohlstand entwickeln: Japan wurde zu einer Welt-Wirtschaftsmacht.
Da europäische Musik mit der Verwestlichung Japans zwar importiert, aber nur begrenzt vom Staat gefördert wurde, muss(te) sie sich selbst verkaufen können. Schon Japans eigene traditionelle Kunst war zumeist privat organisiert mit Meistern und vielen Schülern. Das gilt für Kabuki, Ikebana und für all die traditionellen Musikinstrumente wie Shakuhachi, Biwa, Shamisen und Koto.
Der Klavierunterricht beginnt in Japan sehr früh, häufig schon mit drei Jahren. Oft sind es die Mütter, die eine musikalische Ausbildung bis zum Diplom absolvierten und ihre unerfüllte Musikerkarriere nun an ihren Kindern erproben möchten. In die Klavierstunde gehen Kinder meist an den schulfreien Tagen, also samstags oder sonntags, das ganze Jahr hindurch, meist in Begleitung eines Elternteils. Am Rande erwähnt sei ein Unikum der japanischen Klavierausbildung: Für kleinere Kinder gibt es die Viertelgeige oder das Viertelcello, für Klavier jedoch nichts Entsprechendes. Hingegen ermöglicht der „Assist Stool“ den Pedalgebrauch auch für Kinder; er wird meist bis ins vierte Schuljahr benutzt und unterstützt eine gute Sitzhaltung. Oft ist es die Mutter, die gemeinsam mit dem Kind auf die Bühne geht und das Hilfsmittel an das Pedal des jeweiligen Konzertflügels anpasst.
Die Macht von Yamaha
Für das Fußfassen westlicher Musik in Japan in der Nachkriegszeit hat Yamaha Außerordentliches geleistet. Zunächst belieferte die Firma die Musikzimmer der staatlichen Schulen reihenweise mit Klavieren und die Aula mit einem Flügel. Im Musikzimmer thronen die deutschen Komponistenkoryphäen von Bach bis Brahms – Relikte der ersten japanischen Generation von KomponistInnen und MusikerInnen, die meist an angesehenen deutschen Konservatorien in Leipzig, Berlin u. a. studierten. Jede Volksschule hat ihre Musiklehrkräfte, welche die vom Erziehungsministerium festgelegten Lerninhalte vermitteln. Darin hat die europäische Musik, vor allem die deutsche klassische Musik, einen Vorrang. Jeder Japaner, jede Japanerin kennt den Türkischen Marsch von Mozart oder Beethovens Für Elise und Freude schöner Götterfunken. Doch allmählich wird auch in Japan unter dem Druck technologischer Innovationen die Musik aus dem Schulplan vertrieben.
Pädagogisch offeriert Yamaha sein eigenes Ausbildungssystem mit sogenannten „Grades“: Student Grades 13 bis 6, Teacher Grades 5 bis 3, wobei Grade 3 einem Klavierlehrerdiplom entspricht, und Performer Grades 2 bis 1. Das Unterrichtsmaterial beinhaltet neben dem Spiel auf dem akustischen Klavier und dem sogenannten Electone (elektrische Orgel mit Fußpedal und allen Computeroptionen, wo schon ein Finger zur Erzeugung sinfonischer Wirkungen genügt) auch Rhythmik, Improvisation, Arrangement und Komposition im Unterhaltungsstil. Mit diesem Lernmaterial wurde eine Generation von KomponistInnen herangebildet, deren Œuvre wiederum die Literatur des Lernmaterials von Yamaha erweiterte.
Yamaha betreibt in ganz Japan kleine Musiklernstudios, die zu günstigen Preisen erste musikalische Früherziehung in Gruppen, später in Einzelunterricht Klassik und Unterhaltungsmusik anbieten. Eltern besuchen diese Studios mit ihren Kindern für mindestens ein Jahr. Zeigen sich Schwächen in schulischen Leistungen, bricht man den Unterricht ab und geht vermehrt in Lernstudios für schulische Pflichtfächer wie Mathematik und Sprachen, damit die Kinder später Chancen auf einen Studienplatz an einer angesehenen Universität haben – der Schlüssel für eine gute Anstellung in Japan. Japaner sprechen daher oft von der „Aufnahmeprüfungs-Hölle“. Obwohl das Thema „Gender“ in Japan überall auftaucht, sind es meist Mädchen, die den Klavierunterricht weiter besuchen und damit zur Zielgruppe der staatlichen wie auch der vielen privaten Musikhochschulen werden.
Yamaha hat zudem eine pädagogische Kulturstiftung, Yamaha Masters genannt: eine Ausbildungsstätte für hochtalentierte KlavierschülerInnen. Mein Kollege Claudio Soares führte lange Jahre diese Klasse mit überaus erfolgreichen Resultaten bei den großen europäischen Klavierwettbewerben.
Heute, im Zuge der Rezession und der zurückgehenden Geburtenrate in Japan, verlagert sich die Ausbildung bei Yamaha mehr auf das sogenannten „Silber Age“, die Pensionäre. Sie bilden einen großen Teil der Bevölkerung. Dank der zurückliegenden wirtschaftlich guten Jahre sind viele SeniorInnen finanziell gut gestellt und können nun endlich ihrem Hobby frönen. Zudem ersetzte Yamaha geschickt den zurückgehenden Instrumentenverkauf mit einem Produkt für Schallisolation, dem sogenannten „schwimmenden Zimmer“ im Wohnzimmer. Diese kluge Lösung berücksichtigt den sehr begrenzten Wohnraum in Japan und ermöglicht ein Üben rund um die Uhr.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2024.