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Chen Yiwen

Orff-Pädagogik in China

Möglichkeiten und Probleme bei der kulturellen Adaption des Lehrwerks „Musik und Tanz für Kinder“

Rubrik: Früherziehung
erschienen in: üben & musizieren 3/2024 , Seite 48

Bei der Übersetzung des Früherziehungslehrwerks „Musik und Tanz für Kinder“ ins Chinesische und der Anpassung der Ausgabe an Modalitäten der frühkind­lichen Musikbildung in China waren mancherlei kulturelle, sprachliche und musikspezifische Differenzen zwischen beiden Ländern zu bedenken.

„Das Elementare bedeutet immer einen Neubeginn.“1 Mit diesen Worten hat Carl Orff, einer der Pioniere der Musikalischen Früherziehung und der Elementaren Musikpädagogik (EMP), dazu aufgefordert, nicht auf überlieferten Pfaden zu verbleiben. Die musikpädagogischen Ideen von Orff, seinen KollegInnen und SchülerInnen haben sich weltweit verbreitet. Auch nach Asien reiste Carl Orff, um zu forschen und zu unterrichten. Er besuchte Japan, nicht jedoch China. Dennoch wurde auch die Musikpädagogik in China von Orffs Ideen beeinflusst.2
In diesem Zusammenhang sind zwei Personen wichtig. Seit den 1980er Jahren besuchte Liao Naixiong mehrfach persönlich Carl Orff. Er erhielt ein Humboldt-Stipendium und reiste als Gastwissenschaftler nach Deutschland und Österreich. Nachdem er nach China zurückgekehrt war, machte Liao Naixiong chinesische Musiklehrkräfte mit musikpädagogischen Ideen aus Europa vertraut. Er übersetzte das Orff-Schulwerk Musik für Kinder, die für Orffs Pädagogik zentrale Publikation, ins Chinesische. Die andere wichtige Person ist die Professorin Danna Li, ehemalige Präsidentin der chinesischen Orff-Gesellschaft. Durch ihre Arbeit, insbesondere durch die Transformation des Orff-Schulwerks, hat sie in China eine große Anzahl von PädagogInnen beeinflusst und sie in die Praxis der elementaren musikpädagogischen Ausbildung eingeführt.
Die Entwicklung der chinesischen Musikpädagogik in den vergangenen 30 Jahren brachte viele PädagogInnen mit unterschiedlichsten Konzepten hervor. Zudem wurden viele Kunstdisziplinen in Verbindung mit Musikpädagogik ausprobiert und in diese integriert. Seitdem westliche Musikpädagogik, darunter auch Konzepte der EMP, in China bekannt wurden, gab und gibt es viele Versuche und Entwicklungen für die vorschulische Musikerziehung. Sowohl für Universitäten, außerschulische Einrichtungen und Kindergärten als auch für verwandte Ausbildungsinstitute liegen zahlreiche Lehrkonzepte, Unterrichtsmaterialien und theoretische Literatur vor.
Bei Lehrkräften in China besteht eine große Nachfrage nach systematischen Lehrwerken zur musikalischen Früherziehung. Die in Deutschland und Österreich entwickelten Konzepte bieten dabei vielerlei Anregungen und fungieren oft als Richtschnur für chinesischen Musikunterricht. MusikpädagogInnen in China beschäftigen sich individuell mit Möglichkeiten der Innovation des Musikunterrichts und sind dabei auf vorhandene und neu erscheinende Musiklehrwerke aus dem Westen neugierig. So herrscht aktuell eine intensive Phase der kulturellen Begegnung im Kontext des allgemeinen Globalisierungsprozesses.

„Musik und Tanz für Kinder“ in China

Die Orff-Pädagogik hat sich beständig weiterentwickelt. Zu ihren wichtigsten Werken gehört Musik und Tanz für Kinder, in seiner ersten Form bestimmt für den Musikunterricht mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren.3 In den frühen 1980er Jahren erstellte Rudolf Nykrin zusammen mit Barbara Haselbach und Hermann Regner den Entwurf für ein komplettes kindgerechtes Früherziehungsunterrichtswerk. Das Autoren-Team arbeitete mit anderen ExpertInnen zusammen, ­die in erster Linie am Orff-Ins­titut wirkten und über reiche Lehr- und Forschungserfahrung verfügten.
1985 wurde die erste Ausgabe von Musik und Tanz für Kinder veröffentlicht. Das Werk umfasst Unterrichtsmaterial für zwei volle Unterrichtsjahre und besteht aus zwei Lehrerkommentaren und vier Kinderheften. Der Erfolg des Lehrwerks führte zu dem Wunsch, es für den chinesischen EMP-Unterricht zu adap­tieren. Mitwirkende bei der Realisierung dieses Vorhabens waren vor allem zwei Personen: Cheng Xie, die am gesamten Adaptionsprozess des Lehrwerks und an der Ausbildung von Lehrkräften in China beteiligt war bzw. ist, sowie Zhu Lin, die als Leiterin des Projekts die Zusammenarbeit mit Fachkräften in Europa und China koordinierte.
Bei der Übersetzung des Lehrwerks ins Chinesische kam die Frage auf, wie die Inhalte an nationale Bedingungen Chinas anzupassen seien. Welche chinesischen Materialien sollten ausgewählt werden, die sowohl zu chinesischen Kindern als auch zum Orff-Lehrwerk passen? Die meisten Materialien des Lehrwerks stammen aus traditionellen und neuen Kinderliedern oder Melodien deutschsprachiger Länder und auch die neu komponierten Stücke sind von dieser Kultur geprägt. Deshalb erschien es nicht zielführend, die Originallieder des Lehrwerks zu verwenden und nur die Texte zu übersetzen.
Zu den Schwierigkeiten gehören Unterschiede zwischen der chinesischen und der deutschen Sprache, Eigenarten von Musik und Bewegung in dem Lehrwerk, die Frage, wie chinesische Musikelemente eingeführt werden können, sowie Möglichkeiten des Beibehaltens und Ersetzens der ursprünglichen Materialien des Lehrwerks.

1 Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. 3: Schulwerk – Elementare Musik, Tutzing 1976, S. 277.
2 zur Entwicklung der Orff-Pädagogik in China: Ge Zhang: Orff in China. Zur Rezeption eines musikpädagogischen Modells, Berlin 2022.
3 Das Lehrwerk zur musikalischen Früherziehung Musik und Tanz für Kinder wurde von Rudolf Nykrin und anderen MusikpädagogInnen am Orff-Institut herausgegeben, vielfach umgearbeitet und erweitert. Die Bildungsphilosophie basiert auf der Elementaren Musikpädagogik und bietet ein komplettes Unterrichtsmodell eines erlebnisorientierten umfassenden Kunstausbildungs­systems für Kinder.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2024.